Spriter's Paradise: Blaupausen
Höhö ^__^
Ich hatte nie die Entscheidung, ob ich diese FF hier schreibe oder nicht, NF hat mich nämlich dazu gezwungenen, und hier ist sie, meine FF zum Thema Spriter's Paradise, sie trägt den Titel Blaupausen, da Blaupausen eine tragende Rolle in der Geschichte spielen, da Blau in seinen Pausen gerne mal hier weiterschreibt und nicht zuletzt deswegen, weil ihr euch für die blauschen Geschichten mal eine Pause nehmen solltet.
Ähnlich wie in Friends Variante wird der Stoff unserer FanArt-Galerie hier drin verwoben, fügt sich zu einem langen Teppich, und auf dem dürft ihr dann eure dreckigen Schuhe... Lassen wir das und ihr mir einen Kommentar hier, hier we go:
Inhaltsverzeichnis
0. Prolog - Ein finsterer Ort
1. Kapitel 1 - Ein Bruch? Einbruch!
2. Kapitel 2 - Stille Nacht, heilige Nacht
3. Kapitel 3 - Nudeln
4. Kapitel 4 - Herbstfall
5. Kapitel 5 - Drehtüreinheiten
6. Kapitel 6 - Störsignale
7. Kapitel 7 - Schaberoadtrip
8. (Platzhalter)
9. (Platzhalter)
...
Blaupausen
Freitag. Wäre an diesem Abend ein neugieriger Passant in die Nähe des imposanten Anwesens gekommen, er hätte sich in die Kulisse eines alten Horrorfilms zurückversetzt gefühlt.
Ob das altehrwürdige Gebäude eine große Villa oder ein kleines Schlösschen war, wusste niemand im kleinen Örtchen Irfanton so genau, und es interessierte auch niemanden. Man machte einen Bogen um das Anwesen und um die Straße ohne Namen.
Das Straßenschild war derartig verwittert und von Moosen und Flechten überzogen, dass man den Straßennamen schon seit längerer Zeit nicht mehr entziffern konnte, und erinnerte sich kein Bewohner Irfantons mehr, wie die Straße am Stadtrand ursprünglich geheißen hatte.
Lediglich der Besitzer des einzigen bewohnten Gebäudes, der junge Sir Mettel, der durch eine Erbschaft in Besitz des Gruselschlösschens gelangt war, kannte den Namen der Straße.
Wenn ihn jemand danach fragte, wich er jedoch stets aus und lenkte das Gespräch in eine andere Richtung.
Der Legende zufolge war der Straßenname eine uralte Verwünschung aus einer fremden Sprache, und das war nur eine von unzähligen Sagen, die sich um das alte Anwesen und seine Umgebung rankten. Es war die Art von Geschichten, die sich jugendliche Camper gegen Mitternacht am Lagerfeuer erzählten, um den Zuhörern schlaflose Nächte zu bereiten.
Diese Nacht, eine gewöhnliche Herbstnacht, schien der Vollmond durch dichte, dunkle Wolken herab auf das Schlösschen von Irfanton.
In einem Fenster brannte Licht, Sir Mettel beschäftigte sich am späten Abend also noch mit den neusten Exponaten seiner umfassenden Kunstsammlung über fremdartige Pokemon. Vielleicht las er auch noch ein Buch, in der Stadtbücherei hatte er sich neulich den Romanband „Losing Memory“ von S. Blue ausgeliehen, und die Bibliothekare schlossen schon Wetten ab, um viele Wochen Sir Mettel diesmal mit der Rückgabe im Verzug sein würde.
Mettel war ein vielbeschäftigter junger Mann und Bibliothekare hatten einen langweiligen Job, den sie sich mit derartigen Spielchen erträglicher gestalten wollten.
Die umliegenden Häuser waren viel kleiner und alt und windschief, sie standen schon seit Jahrzehnten leer und nicht wenige vermuteten, dass sie niemals einen Bewohner gehabt haben könnten.
Manchmal spielten hier Kinder verstecken, die sich zu weit von zuhause weg gewagt hatten und die Nischen und Unterschlüpfe der unbewohnten Grundstücke für ihr Spiel benutzten, dass durch den Aspekt, dass sie etwas Verbotenes taten, noch an Reiz gewann.
Auch um diese Häuser rankten sich Mythen und Legenden, wenn auch bei weitem nicht so viele wie um das gigantische Anwesen auf der anderen Seite der gepflasterten Straße.
Neben dem Schlösschen beherbergte das Grundstück auch noch einen verwilderten Schlossgarten, in dem das Gras kniehoch wuchs und Farne, Büsche, Sträucher und Bäume ein Fortkommen abseits der durch Marmorplatten gekennzeichneten Wege unmöglich machten.
Sir Mettel hätte die Möglichkeit, dies zu ändern, betonte er selbst immer wieder, aber „man sollte die Natur doch wenigstens einmal gewähren lassen, schließlich lässt sie uns Menschen auch gewähren“.
Den philosophischen Ansatz dahinter verstanden die Wenigsten.
Doch auch an den Anblick des Gartens gewöhnte man sich, genau wie an den Anblick des Schlösschens, der umstehenden Häuser, des verrotteten Straßenschildes und der funzeligen Laternen, die die Straße nur auf der Seite des Schlösschens säumten.
Und doch wäre einem zufälligen Beobachter der Szenerie an diesem Abend der kalte Angstschweiß auf die Stirn getreten.
Denn auch durch den dichten Regen, der in prallen Tropfen schnell und peitschend auf den steinigen Boden der Straße niederprasselte, sah man deutlich die dunkle Gestalt, die an Schwärze die Nacht noch übertraf – und die nun durch das geschlossene, eiserne Tor hindurchglitt...
Sir Mettel war ein junger Mann, fast zu jung, um ein derartig großes Anwesen zu verwalten.
Da er auch ein sehr reicher Mann war, konnte er es sich allerdings leisten, für die eine oder andere Arbeit im Haus einen Gehilfen zu beschäftigen, meistens ein Pokemon einer besonders seltenen Gattung.
So konnte er ungestört seinen Hobbies nachgehen, die für einen einfachen Bürger sicherlich wenig reizvoll waren, die Mettel aber seit jeher fasziniert hatten. Eine Passion des Schlossherren war die Aquaristik. In seinem überdimensional großen Wandaquarium tummelten sich die verschiedensten Unterwasser-Pokemonarten, und es kamen immer wieder neue dazu.
Das Wasser war klar, die Fische hatten genug Platz und genau so viele Wasserpflanzen, wie nötig waren. Zwei Scheinwerfer versorgten das Aquarium mit hellem, weißem Licht und der Filter am Rande des Beckens surrte leise.
Er öffnete eine in die Wand eingelassene Klappe und ließ ein paar Futtertabletten hineinfallen. Kurz nach dem diese die Wasseroberfläche durchbrachen, stürzten sich zwei seiner Löwenfische darauf und knabberten daran herum, während andere Fischsorten die heruntersinkenden Krümel vertilgten.
Daneben widmete sich Sir Mettel der Kunst.
Er war ein Sammler und Zeichner zugleich, wurde auf dem internationalen Kunstmarkt hoch gehandelt, wenngleich seine Werke meist in seinem eigenen Besitz blieben.
Aktuell arbeitete er an einer Sammlung von Porträts antiker Pokemon, wie man sie noch nie in der Realität des Spriter's Paradise gesehen hat. 351 verstaubte Gemälde im Format 56 mal 56 Zentimeter hatte er sicherstellen können, teure Sammlerstücke von Künstlern wie Sam Lash oder Steven Niebel, die er von Chamane, seinem treuen Weggefährten und Pokemon, restaurieren ließ. Die Härtefälle, für die es in jedem Fall zu spät war, zeichnete er selbst nach, im originalgetreuen Zeichenstil, Acryl auf Leinwand, nur 4 Farben, davon eine Schwarz, eine Weiß und 2 von einer speziellen Palette. Trotz dieser Farbarmut erreichte er eine unwahrscheinliche Plastizität.
Es war nicht der erste verregnete Abend, an dem er bis spät in die Nacht hinein wach blieb, um seine Fische zu beobachten, ein gutes Buch zu lesen oder auf ein restauriertes Gemälde für sein Projekt 351 zu warten. Das Aquarienzimmer war vergleichsweise schlicht eingerichtet, trotz seines Vermögens machte sich Sir Mettel wenig aus Prahlereien.
Die leichten, blauen Vorhänge vor der verglasten Fensterfront, die zur Straße zeigte, passten vielleicht in eine Schule oder eine Arztpraxis, entsprachen jedoch keinesfalls dem Klischee der uralten Stofffetzen, die normalerweise in solchen altehrwürdigen Gemäuern hingen.
Sein Schreibtisch war aus hellem Holz, Stifte, Papier und einige Bücher und Zeitschriften verteilten sich auf der Arbeitsfläche, Skizzen drängten sich in den überfüllten Schubladen. Die Schreibtischlampe war ausgeschaltet, ein Kronleuchter, eines der wenigen Relikte aus den Anfangszeiten des Schlösschens, spendete Licht.
23:42 Uhr, sagte die Wanduhr.
Mettel ahnte in diesem Moment noch nicht, dass dieser Zeitpunkt sich wenig später in einem Protokoll der örtlichen Kriminalpolizei finden sollte.
Es klopfte an der Tür, deren hölzerne Oberfläche übermäßig verschnörkelt und verziert war, neben dem mit Blattgold überzogenen Knauf war ein kleiner Löwe eingraviert, das Familienwappen der Mettels.
„Herein.“
Sir Mettels Stimme war etwas heiser, er hatte sich Tags zuvor eine leichte Erkältung eingefangen, wohl durch die feucht-kühle Witterung der letzten Wochen bedingt.
Es trat ein seltsames Wesen ein, mannshoch mit fast menschlicher Statur, aber einem majestätischen, weißgefiederten Vogelkopf.
Die Gestalt war in eine weinrote Robe gehüllt.
„Chamane“, begrüßte der Kunstsammler sein Pokemon.
„Was führt dich so spät noch zu mir?“
Das Mischwesen holte aus den Tiefen seiner Umhangtaschen einen seltsam verzerrten, goldenen Stab hervor und schwenkte ihn durch die Luft. Diese seltsame Zeremonie war eine Art telepathische Séance und erlaubte es dem Pokemon, einer beliebigen Person direkt seine Gedanken mitzuteilen.
Schockierende, verstörende Gedanken.
Gedanken, die Sir Mettels Gesichtsfarbe schlagartig in ein ungesundes Blassgrün änderten.
„Das ist ja...“
Mehr brachte er nicht heraus.
Sofort sprang er auf und verließ rennend das Zimmer.
Noch im Laufen tippte er die Nummer der örtlichen Polizeidienststelle.
Samstag. 1:27 Uhr. Es war nur ein kleines Team angerückt, es handelte sich schließlich nur um einfachen Diebstahl und nicht um Mord, Totschlag oder das Herbstfest der Volksmusik, wie Kommissaranwärter Jan Trapp es formulierte.
Er war der Unglückliche, den man nachts um eins aus dem Bett bimmelte, weil die zuständigen wenigen Kommissare entweder „auf Urlaub“ waren, grade aus unerfindlichen Gründen etwas anderes zu tun hatten oder „nicht konnten“, ein Totschlagargument wie kein Zweites.
Jan war also aufgestanden, hatte sich die erstbesten Klamotten aus dem Schrank übergezogen, hatte sich den Pokeball mit seinem Begleiterpokemon Buknu in die Tasche gesteckt, hatte sich sein altes Klapprad aus dem Geräteschuppen geholt und war durch den strömenden Regen eine Viertelstunde bis zum Tatort gefahren, wo ein Kollege und eine Kollegin von der Streife bereits warteten.
„Grüezi, allwithanother“, versuchte Jan mit einem seiner zahlreichen halblustigen Späße die gedrückte Stimmung etwas aufzuheitern, was ihm auf ganzer Linie misslang.
„Und, wo steckt der böse Bube?“
Ein dicklicher, mittelgroßer Mann mit hellem Oberlippenbart, der in diesem Viertel nachts den Streifenwagen fuhr, las den bisherigen Stand der Ermittlungen aus dem Protokoll vor.
„Gegen halb zwölf am gestrigen... Wat war nochmal jestern jewesen?“
„Freitag, Uwe“, seufzte seine bemitleidenswerte Begleitung, eine junge Frau, die von der KTU zur Streife versetzt worden war, weil zur Zeit so viele Polizisten Urlaub hatten, zu tun hatten oder nicht konnten, was ihrer Meinung nach sowieso das Totschlagargument schlechthin war.
Uwe fuhr fort:
„Ja, also, dann, nech? Auf jeden Fall hat der Mr. Mettel hier im Erdgeschoss ein Atelier, so Kunst und so, und Leute bezahlen für den Kram ne Menge Kohle – und er hatte da wohl so ein paar nie veröffentlichte Sachen, und die wurden jetzt gestohlen und so und alles verwüstet, und jetzt wills keiner gewesen sein. Keine Personenschäden.“
„Also ein stinknormaler Bruch? Dafür wird man mitten in der Nacht bei 'nem derartigen Scheißwetter geweckt? Wo bleibt da die Menschlichkeit?“
Mettel, der die ganze Zeit schweigend neben den drei Beamten gestanden hatte, trat nun aus dem Schatten der Nacht hinein in den fahlen Lichtkegel der Straßenlaterne.
„Es gibt etwas, das sie vielleicht wissen sollten“, flüsterte er bedeutungsschwer. „Diese Skizzen verstehen nicht alle Leute. Aber die, die sie mir gestohlen haben, verstehen sie gut genug, um mehr zu zerstören, als sie sich vorstellen können.“
Samstag, 8:44 Uhr.
Die vergangenen Stunden waren eine Tortur, die Kommissaranwärter Jan Trapp so bisher noch nicht erlebt hatte und inständig hoffte, dass er Ähnliches nie wieder erleben müsste.
Nachdem die Spurensicherung mit einiger Verspätung angerückt war, hatte auch er den Tatort besichtigen dürfen, und natürlich hatte Sir Mettel, der alte Prahlhans, der zwar auch nicht viel älter war als Jan, aber um Einiges reicher, es sich nicht nehmen lassen, nebenbei die ansehnlichsten Flecken seines Prunkschlösschens vorzuführen.
Für jemanden, der zur Zeit in einer Schrebergartenlaube wohnte und froh war, wenn es mittags etwas anderes gab als Nudeln, ein ganz schöner Kulturschock. Er beschloss noch vor 3 Uhr morgens, sich zur nächsten Mahlzeit wenigstens Ketchup und Parmesankäse zu gönnen.
Und vielleicht mal irgendwas mit Pilzen.
Wobei, er hasste Pilze.
Er hasste auch Parmesankäse.
Und ob das den Lebensstandard derart heben konnte, um einen Mann, der im Wohnzimmer einen silbernen Springbrunnen stehen hatte, nicht mehr zu beneiden, wagte er auch zu bezweifeln.
Scheißjob, Scheißlohn.
Das Atelier befand sich im Westflügel.
Das war die dem Haus abgewandte Seite des Schlosses.
Ein Fenster war eingeschlagen, die Vorhänge (ähnliche wie in Mettels Aquarienzimmer) von der Gardinenstange gerissen, Leinwände umgekippt, Farbe überall verteilt, Gemälde durchtreten und Pinsel in die Wände gerammt.
Gerade Letzteres erweckte den Eindruck, als ob dort drinnen ein Tornado getobt hätte, Jan Trapps Bemerkung, es hätte genau so gut ein Taifun gewesen sein können und man müsse das prüfen lassen, wurde überhört.
Doch das Beunruhigendste war nicht das, was da war, sondern etwas, das fehlte.
Die Wand des Raumes war fliederfarben gestrichen. Einige Farbspritzer trübten dieses Bild nun.
Vor allem jedoch fielen die rechteckigen, dunklen Flecken auf, drei an der Zahl, die in einem gleichschenkligen Dreieck angeordnet die Zimmerwand verschandelten.
„Das ist... Ich weiß, was das ist, glaube ich. Und es ist wichtig, und, wissen Sie, Sie müssen mir glauben! Ich mach das jetzt nicht aus Spaß oder weil ich irgendwie paranoid bin oder Dings...“
Mettel war durcheinander.
Das merkte nicht nur Trapp, sondern auch die Leute von der SpuSi, von denen Einige noch am fotografieren der Beweisstücke waren, die sie feinsäuberlich von eins bis dreizehn durchnummeriert hatten.
Trapp wusste, dass sie überhaupt nur 13 Schilder hatten, wieso das so war, wusste er allerdings nicht. Aber eins wusste er, er war entschieden zu müde, um noch große Sprünge zu machen.
„Sir Mettel, ruhen sie sich ein bisschen aus, ich erwarte sie heute früh um 9 auf dem Revier, dort wird man Sie vernehmen. Schlafen Sie ne Runde. Machen Sie sich nen Kaffee, essen Sie Spekulatius und hören Sie ein bisschen Jazz, von mir aus machen Sie auch Yoga oder irgend einen anderen wirbelsäulenfeindlichen Kram aus Asien, aber ordnen Sie bitteschön Ihre Gedanken. Danke, zu liebenswürdig.“
Mettel bemerkte den bissig-ironischen Unerton in Trapps Stimme, verkniff sich aber aus Höflichkeit eine entsprechende Gegenbemerkung.
Buknu, welches Trapp aus seinem Pokeball gelassen hatte, kämpfte gegen die aufkommende Müdigkeit, indem es die Schilder der Spurensicherung mit der Nase umstupste und den Kriminalbeamten dabei zusah, wie sie sie wieder aufstellten.
„Komm zurück, du dummes Ding...“
Und zurück in den Pokeball mit Buknu.
Trapp hatte wirklich keinen Nerv mehr, er ließ Streifenpolizist Uwe die restlichen Formalitäten erledigen und suchte sich so schnell wie möglich einen Weg aus dem gigantischen Bau hinaus an die frische, regenfeuchte Nachtluft, um die wenigen Stunden der Nacht, die ihm noch übrig geblieben waren, wenigstens in seinem bescheidenen, warmen, trockenen Heim schlafend im Bett verbringen zu können.
Er suchte nach seinem rostigen Klapprad.
Er hatte es an den Zaun gekettet, da war er sich sicher.
Das Schloss allerdings war aufgebrochen, oder besser gesagt: Von spitzen Reißzähnen aufgebissen.
Klar. In diesem Stadtteil lebten die bescheuertsten Pokemon.
Mit was für einem Exemplar er es zu tun hatte, wurde ihm auch schnell klar, denn nicht weit vor ihm radelte ein koboldartiges, rotes Wesen mit einem plüschigen silbergrauen Latz und grinste ihn gewitzt und verschlagen an.
Ein Takobold. Er hasste diese Biester, sie waren auf seiner Sympathierangliste irgendwo zwischen Pilzen und Parmesankäse anzusiedeln.
Gut, hatte er kein Rad.
Und stand um 3 Uhr morgens irgendwo im Nirgendwo im Dauerregen bei gefühlten minus zwanzig Grad.
Traumjob.
Ein Xenonscheinwerfer irgendeines Autos blendete ihn, Trapp schirmte sein Gesicht mit beiden Händen ab und erkannte, dass es der Streifenwagen von Uwe und seiner jungen Kollegin war.
Wobei Uwe hier subtrahiert werden musste, er saß nicht mehr mit drin, warum auch immer.
Die junge Polizistin sah er jetzt das erste Mal wirklich im Licht, sie hatte lange, glatte, kastanienbraune Haare und ein sympathisches Gesicht, aus dem er ablesen konnte, dass das Mädchen in der Jugend ziemlich viel heile Welt gesehen haben musste.
Warts ab, Kleine, der Job wird dich noch früh genug schocken. Sie hupte und hielt.
Trapp stieg ein und machte es sich auf der gepolsterten Rückbank bequem.
„Was macht eine so junge Frau wie Sie nachts alleine in dieser Gegend? Hoffentlich sind für den Notfall ein paar Polizisten in der Nähe.“
Im Rückspiegel konnte Trapp die junge Beamtin kurz lächeln sehen.
Eine der wenigen Personen auf seiner Strichliste, die gegen seinen kosmischen Humor nicht allergisch reagierten.
„Sehr witzig, Herr Komissar.“
Trapp erkannte, dass sie sich bemühte, möglichst abweisend und sachlich zu klingen.
„Und, wie ist der Stand der Ermittlungen?“
„Ich bin müde, mein Fahrrad ist weg, der Wetterbericht war völlig daneben. Die Kachelmons sind sonst eigentlich zuverlässiger. Aber jetzt hab ich ja immerhin ein Taxi.“
„Leider nein. Ich kann Sie höchstens zum Revier bringen, muss noch Streife fahren und kann jetzt nicht Ihr Taxi spielen.“
„Wissen sie was, ich hasse es, Leute zu siezen, die das so offensichtlich beschissen finden wie ich selbst. Also, geben Sie ihren Namen besser zu Protokoll, bevor ich Ihren Fingerabdruck in der Kartei nachschlagen muss.“
Der Wagen setzte sich ruckelnd in Bewegung, Trapp konnte nicht sehen, ob sie ihm seinen Sarkasmus übel nahm.
Immerhin, sie antwortete.
„Sophie Lese. Lese wie der Esel, nur rückwärts. Und selbst?“
Der Kommissaranwärter räusperte sich, legte eine bedeutungsschwere Pause ein und imitierte den Tonfall seiner Kollegin.
„Jan Trapp. Trapp wie der Adler, nur ohne Adler, dafür mit Trapp. Wieso sagt mir Ihr Name nichts? Die normalen Streifenpolizisten kenn ich eigentlich alle.“
„Jetzt siezt du schon wieder.“
„Ach, egal jetzt.“
„Also erstmal bin ich noch nicht so lange dabei, zweitens arbeite ich normalerweise in der KTU.“
„Und was verschafft mir dann die Ehre?“
„Personalmangel, die konnten heute alle nicht.“
„Ist ja wohl das Totschlagargument schlechthin!“
„Ja, wirklich.“
Eine Phase des Schweigens folgte.
Trapp inspizierte das Innere des Streifenwagens aufs Genauste.
Sah auch nicht anders aus als sonst.
Roch nach neuem Auto, war aber nicht neu.
Ein Duft-Tannenbaum, der von der Decke baumelte, sorgte für den Geruch nach unbenutztem Leder und fabrikneuer Karosse. Damit wurde bei Kleinkriminellen immerhin der Eindruck erweckt, die Polizei könne sich neue Autos leisten und wäre sowieso viel besser und mächtiger als irgendwelche Möchtegernmafiosi, die meinen, sich über das Gesetz stellen zu können.
Im Fußraum lag eine Tüte, irgendeine Dose lag noch drinnen. Der Polizeifunk surrte. Auf dem Beifahrerplatz schlief ein Pokemon, irgendetwas zwischen Hase und Haarball.
Das Fell des Wesens war weiß, kurz und dicht, eine hellblaue Halskrause und lange, blaue Fellsträhnen, die das Gesicht umrahmten, brachten etwas Farbe ins Spiel.
Auffällig waren die großen Ohren.
Trapp hatte so ein Pokemon schonmal gesehen, in einer Zeitschrift im Wartezimmer seines Arztes.
Er war dort wegen einer Magenverstimmung gewesen, eine Pilzsuppe war ihm nicht bekommen...
Er hasste Pilze.
Plötzlich legte der Wagen eine Vollbremsung hin, das Pokemon schreckte aus seinem Schlaf hoch und auch Trapp war ein wenig wacher, als ihm lieb sein konnte. Ein gelber Rüssel grinste ihn dümmlich durch die Windschutzscheibe an.
Ein Pflanzensprössling wuchs auf dem massigen Kopf des Pokemon, das die Straße blockierte. Der blätterartige Schwanz wedelte. Durch die Scheibe hörte man das Viech grunzen.
Er blickte auf ein Schild am Straßenrand, welches im Licht der Autoscheinwerfer reflektierte. „Vetaris kreuzen die Fahrbahn“.
Na klasse.
Es reichte ihm jetzt, Jan Trapp kapitulierte. Er dachte noch an einige wirren Dinge, bevor er auf der Rückbank des Streifenwagens einschlief.
Wo dieser Uwe überhaupt war.
Was Karl Lagerfeld in Sachen Fortpflanzung machte, wenn Designerbabys doch trotz voranschreitender Genforschung verboten waren.
Wie man Pilze zubereitete, ohne, dass sie am Ende derart bescheiden schmeckten, dass er im Wartezimmer Zeitungen lesen musste.
Scheißjob.
Samstag, 8:44 Uhr.
Jan Trapp wachte auf der maroden Rückbank eines miefenden Streifenwagens alleine auf.
Es regnete nicht mehr.
Jan Trapps Armbanduhr gab ein schrill piepsendes Geräusch von sich.
Viertel nach Neun.
Trapp wusste nicht, wie man den Alarm ausschaltete. Einstellen war ganz leicht gewesen, der Rest der Bedienungsanleitung war ihm dann zu kryptisch gewesen.
Er hatte das japanische Original des Handbuchs durch den Google Übersetzer gedreht, dabei raus kam etwas, das mehr an ein Bekennerschreiben eines nahöstlichen Terror-Syndikats erinnerte als an eine Methode, das nervtötende Geräusch abzustellen.
Eine halbe Minute, dann hörte es von alleine auf.
Sir Mettel trat durch die Glastür und setzte sich Trapp gegenüber.
Der Raum war sehr karg eingerichtet, wie es nun einmal der Stil solcher Kleinstbüros war.
Die Zimmerwände waren grau oder gläsern, wahrscheinlich mit Hartplastik ausgekleidet oder sowas, Jan Trapp war schließlich kein Architekt, er musste das nicht wissen.
Er musste wissen, wer der Mörder war. In einem Mordfall jedenfalls, aber die Mordkommission war überbesetzt. Wobei er sich vorstellen konnte, dass viele dort grade Urlaub hatten oder nicht konnten, weil sie sich eine mittelschwere Pilzvergiftung zugezogen hatten.
Auf dem ebenso schlichten wie farblosen Schreibtisch herrschte erschreckende Leere, die sonst obligatorische Zettelflut war per Aktenordner und Aktenordnerschrank aus den Augen und fürs Erste auch aus dem Sinn.
Lediglich ein leerer Schreibblock, eine Kaffeetasse mit drei Bleistiften, vier funktionstüchtigen Kugelschreibern, drei defekten Kugelschreibern und einem weichen, alten Salzbrezel und ein seit zehn Jahren veraltetes Schnurtelefon verzierten den leeren Tisch in diesem trostlosen Zimmer.
Auch eine Plastikblume, die sich in blassen Pastelltönen auf der Fensterbank langweilte, wirkte mehr deplatziert als stilvoll. Jan Trapp fragte sich, was sich so ein neureicher Schnösel wie Mettel dachte, wenn er es sich in so einem Raum bequem machen sollte. Das Wartezimmer eines beliebigen Hausarztes strahlte mehr Lebensfreude aus.
Außerdem waren die Zeitschriften dort interessant, Jan Trapp fragte sich manchmal, ob irgendwer extra Zeitschriften für Wartezimmer herstellte.
Und wie das Pokemon hieß, das auf Sophie Leses Beifahrersitz geschlafen hatte.
Rabicet?
Wobei, das konnte genau so gut ein Medikament sein.
Von ratiopharm.
Gute Preise.
Gute Besserung.
„Also, darf ich jetzt meine Aussage machen!?“
Mettel wirkte gehetzt. Der junge Adlige hatte dichtes, schwarzes Haar, das sich an den Seiten kräuselte.
Sein Gesicht war schmal, sein Körperbau auch nicht wirklich stämmig, er wirkte weder wie ein Hänfling noch wie ein Milchgesicht, eher wie ein junger Künstler.
Er war ja schließlich auch einer.
„Nein, wir haben hier feste Zeiten. Aussagen nur Mittwochs von vierzehn bis sechzehn Uhr, und auch dann nur in Begleitung einer autorisierten... Nein, mal ernsthaft. Dafür sind sie hier und deswegen sollten sie das machen, oder?“
„Öhm, ja, okay. Wollen Sie mitschreiben?“
„Muss nicht sein, hab ein Tonband laufen. Schießen Sie los.“
„Ja, also. Ich war den ganzen Abend über in meinem Aquaristik-Zimmer, wissen Sie, Fische und so.“
Jetzt erst bemerkte Trapp das kleine Wesen, das Mettel mitgebracht hatte und das es sich auf dem Schoß des Bestohlenen gemütlich gemacht hatte.
Es sah aus wie eine Katze oder ein kleiner Hund, allerdings war es blau und geschuppt, das kam bei Hunden wie Katzen dann doch tendenziell selten bis nie vor.
Über flossenartige Auswüchse an Kopf und Armen konnte getrost das selbe behauptet werden. Abgerundet wurde das seltsame Erscheinungsbild durch zwei Schlangenköpfe.
Zumindest sahen sie so aus.
Sie konnten allerdings auch ein harmloser Schweif sein.
Vielleicht.
Mettel bemerkte den neugierigen Blick des angehenden Kriminalkommissars.
„Ich soll mich um das arme Ding kümmern. Aquafüchse gibt es eigentlich nicht in dieser Region, der hier wurde offensichtlich ausgesetzt, vielleicht von irgendeinem Sammler. Die örtliche Poke-Pension hat mir aufgetragen, das kleine Ding wieder aufzupäppeln... Ich engagier mich da eben hin und wieder. Und unser kleiner Foxi hier hat noch einen Blubberhusten.“
Das Pokemon rülpste laut und ausgiebig, wobei ihm Seifenblasen aus den Nasenlöchern entwichen. Eine davon zerplatzte direkt vor Jan Trapps Auge, die Seifenflüßigkeit brannte wie Feuer. Trapp sagte nichts, kniff das Auge nur zu, weil ein Jan Trapp keinen Schmerz zugibt, wenn er einen blutjungen Großgrundbesitzer gegenüber hat.
Ein Jan Trapp würde auch dann keinen Schmerz zugeben, wenn er einen zweiundfünfzigjährigen Metzgermeister vor sich hätte, wenn er es sich recht überlegte.
Er hatte kein Image als harter Hund, nun wirklich nicht.
Eigentlich hatte Trapp überhaupt kein Image.
Und auch keinen Hund.
Vor einem Hund würde Jan Trapp Schmerzen vielleicht zugeben. Auch vor einem harten.
Mit geschlossenem linken Auge fuhr der Kommissaranwärter fort.
„Also, ich nehme an, Fingerabdrücke wurden schon genommen?“
„Ja, hat mir ihr Kollege, der Herr Uwe, schon abgenommen. Habe ihn in meinem Gästezimmer übernachten lassen, der arme Mann hat seit Tagen nicht mehr geschlafen. Fallen hier viele Mitarbeiter aus?“
„Kann man so sagen.“
„Kein populärer Beruf, oder?“
„Was haben sie denn bitteschön gelernt, außer Geld zu erben?“
„Man muss nicht gleich persönlich werden.“
„Würden Sie fortfahren? Wie heißen Sie eigentlich mit vollem Namen?“
„Blake Ephraim Sirius Theodor Johann Mettel. Für Freunde Blake, wie der englische See, nur mit einem B davor. Sie dürfen mich Mettel nennen.“
„Okay, Mr. Mettel. Mein Name ist Trapp. Mehr brauchen sie nicht wissen. Ich muss mehr wissen. Beschreiben Sie doch mal den Ablauf des Tatabends aus Ihrer Sicht.“
„Wie gesagt, ich war im Aquarienzimmer. Die Wände sind dick, ich habe nichts gehört, und die Alarmanlagen haben allesamt nicht angeschlagen. Ich habe es erst mitbekommen, als Chamane – vielleicht haben sie ihn gesehen, ein großes, vogelähnliches Pokemon, ziemlich selten, und, um ehrlich zu sein, auch ziemlich wertvoll – mir also mitgeteilt hat, dass im Atelier ein Chaos herrscht. Und mir war klar, dass sich da jemand an den Planpokemon zu schaffen gemacht hat.“
„Oha, Planpokemon. Und jetzt kommt die große Verschwörungstheorie?“
„Nennen Sie es, wie sie wollen. Die Planpokemon sind Gemälde von sehr mächtigen Wesen aus grauer Vorzeit. Der Legende nach verstecken sich in der Malerei Hinweise. Hinweise darauf, wie man die Planpokemon wieder erwecken kann. Und wenn das Humbug ist, gibt es immerhin noch genug Leute, die siebenstellige Summen für diese drei Werke zahlen würde.“
„Mit Verlaub, diese Planpokemon-Geschichte erscheint mir doch ein wenig unglaubwürdig. Aber anscheinend ist es immerhin ein lukrativer Raub mit Sachbeschädigung. Ist doch auch etwas.“
„Ich gebe Ihnen nur den Rat, aufzupassen. Wer auch immer die Gemälde gestohlen hat, er ist gefährlich.“
Trapp öffnete eine Schublade an seinem Schreibtisch und holte eine kleine Schachtel mit der Aufschrift „FFD“ heraus.
Auf der Packung war ein seltsames Mischwesen aus Schokoladentafel und Zuckerwatte zu sehen, in der Schachtel fand sich das selbe Ding in Kleinstform.
„Auch einen?“ Trapp kaute auf dem Süßigkeitending herum.
Nervennahrung.
Er hatte noch kein Frühstück. Trapp hatte Hunger, wollte den Adligen möglichst schnell loswerden.
Wenn er sich beeilte, bekam er noch etwas Warmes in der Kantine.
Mettel schaute ihn nur komisch an. Wirkte irgendwie irritiert.
Ob es in den besseren Kreisen wohl auch sowas wie Karies gab?
„Dann nicht. Sie können auch gleich gehen. Ich brauche nur noch Ihre Anschrift. Mit Straßennamen, bitte!“
„Sie wissen doch, wo ich wohne.“
„Das nennt sich Bürokratie, also sein Sie mal nicht so.“
„Na gut. Wiesenstraße 3.“
„Die mysteriöse unbekannte Straße der tausend Legenden heißt Wiesenstraße?“
„Wieso denn nicht? Schauen Sie sich meinen Garten an. Wenn das keine Wiese ist, weiß ich auch nicht.“
„Na gut. Dann halten Sie sich bitte zu Verfügung. Wir werden uns melden. Schönen Tag noch.“
Mettel ging. Trapp auch, nämlich Essen.
Die Kantine sah nicht großartig anders aus als sein Büro, größer natürlich, von hellem, künstlichen Licht durchflutet, grau und fantasielos eingerichtet.
Viele Tische waren nicht belegt.
Viele Leute hatten Urlaub, einige konnten vielleicht nicht.
Die Schlange war nicht allzu lang.
Da der eigentliche Kantinenkoch nicht konnte, weshalb auch immer, war die Ersatztruppe im Einsatz.
Die bestand neben zwei Azubis aus Ben Bonhoff, einem ehemaligen Klassenkameraden Trapps.
Ihr Verhältnis war seit einem verhängnisvollen Klassenausflug vor fünfzehn Jahren gestört. Dass der eine den anderen manchmal bediente, machte keinen so richtig glücklich.
Bonhoff kam aus Schaberode, einem kleinen Dorf nordwestlich der Stadt, das noch zur Gemeinde Irfanton gehörte. Böse Zungen behaupteten, das Dorf sei nach seinem Zustand benannt, schäbig und marode.
Beweisen konnte das niemand, wiederlegen auch nicht, aber es galt als unanständig, die Dörfler deswegen aufzuziehen.
Fakt war allerdings: Es war eine ländliche Gegend, größtenteils von der Restzivilisation abgeschnitten und irgendwo zwischen Wald und Gebirge angesiedelt, mit Schleichweg zur Stadt.
Jeder kannte jeden, der Genpool war klein. Trapp kannte Bonhoff schon seit Kindertagen, damals, als Ben noch Benjamin hieß, maximal eins vierzig groß war, maximal acht Jahre alt war und einen IQ von maximal 75 vorzuweisen hatte.
Zumindest die ersten beiden Größen hatten sich signifikant verändert.
„Was gibt’s denn heute Leckeres?“
„Nudeln.“
Bonhoff hatte ein breites, teigiges Grinsen aufgesetzt.
„Haste noch Ketchup?“
„Nee.“
Trapp sah durch den offenen Spalt der Küchentür, dass mindestens zwei Flaschen Ketchup übrig waren. Scheißjob.
„Und Parmesankäse?“
Neben dem Nudeltopf stand eine volle, große Schale Käsekrümel.
Bonhoff grinste noch breiter, nahm die Schale und kippte sie in den Mülleimer.
„Nee, ist grad aus.“
„Ha! Ich mag gar keinen Parmesankäse!“
Bonhoff verzog das Gesicht und reichte Trapp eine Schüssel mit Nudeln. Trapp machte sich auf den Weg zu einem der unzähligen freien Plätze und pfiff ein Lied, das er gestern im Radio gehört hatte.
Könnte auch der Polizeifunk gewesen sein.
Buknu stritt sich derweil in der Poke-Fressecke mit einem himmelblauen Wollknäuel um einen Knursp – und zog den Kürzeren. Plötzlich packte eine Hand Trapp an der Schulter, der Kommissaranwärter wirbelte herum – in seinem Gedächtnis arbeitete es, das Kleinhirn meldete Zeichen von Erkennen.
Ihm dämmerte etwas.
„Wie der Esel, nur rückwärts, oder?“
„Exakt. Wie der Adler, nur ohne Adler, dafür mit Trapp, richtig?“
„Genau so isses.“
Sophie und Jan Trapp setzten sich an einen freien Tisch.
„Willst du deine Spaghetti tauschen? Ich mag keinen Ketchup, und du scheinst ja irgendwie Stress mit dem Chefkoch zu haben.“
„Na dann – willkommen zur ersten Nudelbörse in der Geschichte der Irfantoner Kriminalpolizei.“
Die Teller wechselten ihren Besitzer.
Die Spaghetti schmeckten ein wenig nach Waschmittel und rochen ein wenig nach farbigem Klostein, aber da in der Not bekanntlich der Teufel Fliegen frisst, aß in der Mittagspause auch der Trapp Spülispaghetti.
Zähe, dampfende Würmer, matschig und durchgesuppt unter den blutroten Massen des extrem zuckerhaltigen Industrieketchups begraben, hergestellt aus glücklichen Freilandtomaten. Ekelhaft, aber essbar.
Da fehlte eindeutig der Parmesankäse.
Blöd nur, dass Jan Trapp Parmesankäse nicht ausstehen konnte.
Irgendwo hatte er mal gelesen, dass manche Pokemon sich hin und wieder ihre eigenen Gliedmaßen abkauten.
Das ging im Schnitt nur vier Mal. Hochgerechnet auf einen Mittelwert von drei Tagesmahlzeiten...
Es kam ihm wieder in den Sinn, dass dieses Verhalten nur dann zutage trat, wenn das Pokemon in eine massive Bärenfalle gehoppelt oder gestolpert war.
Nicht, um Geschmacksdefizite bei völlig zerkochten Nudeln auszugleichen.
Spaghetti al rente. Teigwaren für die dritten Zähne.
Lustlos im Mittagessen herumstochernd ordnete Jan Trapp seine Gedanken.
Wir haben einen Diebstahl. Wir haben keine Verdächtigen, vielleicht haben wir Spuren, so genau weiß man das noch nicht. Wir haben einen schnöseligen Großgrundbesitzer, der geradezu lächerlich wohlhabend ist.
Wir haben – ja, was haben wir eigentlich? Wir haben einen Aushilfskoch, der aktive Sterbehilfe per Nudelgericht leistet.
Scheiß – Kunstpause – job.
Das altmodische Quecksilberthermometer, angebracht an einem stahlgrauen Stützpfeiler mitten im Raum, zeigte irgendwas knapp über 10 Grad an. Draußen war es kalt und feucht, Herbst eben.
Schön war was Anderes.
Zu allem Überfluss hatte sich die Heizung vor wenigen Tagen verabschiedet, wahrscheinlich in den Urlaub.
Der Deckenventilator kurbelte indes weiter vor sich hin und teilte die stickige Luft gleichmäßig auf den Raum auf.
Draußen hatte die strukturlose Anhäufung mittelgroßer Kastanien, die dem tristen Bürogebäude der Irfantoner Kriminalpolizei so ein bisschen einen naturverbundenen Touch geben sollten, ihre Blätter schon in alle erdenklichen Schmuddeltönen verfärbt und begann nun unverschämterweise, die farbenreiche Biomasse durch bloßes Fallenlassen mit den witterungsbedingten Schlammpfützen zu verquirlen.
Nicht zu vergessen: Der letzte Ahorn, der als einziges Bäumchen aus der Reihe tanzte. Aus ungeklärten Gründen nie gefällt worden, und Holzfäller hatten um diese Jahreszeit grundsätzlich Urlaub oder zu tun.
Das Ergebnis des Laubwechsels war braun, roch modrig und natürlich war irgendjemand reingelatscht. Jeder Schritt war mit einem matschigen, saugenden Geräusch verbunden, als der hochgewachsene Mann sich dem Tisch des zukünftigen Kommissars Jan Trapp und seiner Kollegin näherte.
Trapp schaute kurz auf.
„Ah, Herr Misslich, sie sinds! Setzen Sie sich doch zu uns.“
Werner Misslich war nur knapp unter der 2-Meter-Marke geblieben. Er kam aus der Gegend und war in den knapp 50 Jahren seines Lebens nie irgendwo anders ansässig gewesen als im hiesigen Landkreis.
Seit knapp 3 Jahren nun war er so etwas wie Trapps Vorgesetzter, Jan Trapp schätzte, dass er damit gleichzeitig auch Sophies Vorgesetzter war, egal, in welcher Abteilung diese normalerweise tätig war.
Misslich galt als lockerer Chef.
„Bei dem konnte man auch schonmal einen Passanten erschießen und der Werner macht da Notwehr draus“ - so oder so ähnlich war es tatsächlich. Nicht, dass so etwas häufig vorkommen würde. In einer Kleinstadt wie Irfanton gab es nun auch nicht so viele Passanten.
„Jan Trapp, mein bester Mann!“
Kumpelhaft klopfte Misslich dem verdutzten Komissaranwärter auf die Schulter. Beim Riesen Misslich konnte so ein kleiner Klaps schonmal für den einen oder anderen Knorpelschaden sorgen, diesmal war der einzige sichtbare Effekt, dass Trapp ein paar Nudeln zurück auf den Teller spuckte und eine halbe Minute lang röchelnd nach Luft rang, während sein Chef ihn auf der Sitzbank näher an die Wand drückte, damit auch noch genug Platz für Misslichs Aktentasche war, die er natürlich nicht auf den Boden stellen wollte.
Denn die Fliesen des Speisesaals waren ja inzwischen von einer Familienportion Importmatsch frisch aus dem Umkreis der Quotenkastanien bedeckt.
Buknu gefiel das, das Pokemon hatte aufgegessen und machte sich nun schön dreckig, indem es sich mehrfach ausgiebig im Matsch rollte.
Trapp hatte sich wieder beruhigt.
„Bester Mann, wie komme ich denn dazu? Ich seh mich hier eher als bester Mann in spe, ich bin ja schließlich noch halber Azubi...“
„Paperlapapp. Sie, mein Freund, sind der beste Mann derer, die ich zur Zeit habe. Und wir haben aktuell Engpässe, müssen sie wissen. Viele Leute können nicht, manche haben keine Zeit und andere wiederum haben Urlaub – verständlich, bei dem Sauwetter.“
Misslich rutschte unruhig hin und her, wobei er sich die rechte Fußsohle an Jan Trapps Hose abstreifte.
Brauner Schlamm klebte an blauem Jeansstoff und tropfte langsam, aber stetig auf den Boden.
„Ähm, Herr Misslich...“
Sophie meldete sich zaghaft zu Wort.
„Ah, ja, Sophie! Du bist natürlich auch mein bester Mann. Oder so. Wie auch immer.“
Sophie Lese schickte einen kurzen Seitenblick in Richtung Trapp, der eine verwirrte Mischung aus „Seit-wann-duzt-der-mich“ und „Seit-wann-bin-ich-männlich“ darstellen sollte.
Jan Trapp lächelte gequält.
Chef war Chef. Widerspruch ist zwecklos.
Misslich hatte stets ein breites Gesicht aufgesetzt und war mehr der südländische Typ. Seine solariumerprobte Dauerbräune bildete einen klaren Kontrast zu Trapps blasser Gesichtsfarbe.
Der Komissaranwärter hielt nichts von Sonnenstudios und zollte ansonsten dem trüben Herbstwetter Tribut. Mit den kurzen, gelockten, grau-schwarzen Haaren, dem Dreitagebart und der dezenten Goldkette um den Hals sah Misslich mehr wie ein Zuhälter oder Mafiapate aus als wie ein hochrangiger Polizist.
Sophie fuhr nach kurzem Zögern fort:
„Es geht um diesen Fall mit den gestohlenen Kunstwerken, oder?“
„Kunstwerke? Pff. Kritzeleien.“
Trapps Zwischenruf war so überflüssig wie irrelevant. Misslich kümmerte sich nicht weiter drum und nahm einen kurzen Schluck aus seiner kleinen Pulle Halstenbek-Krupunder, die er alsbald wieder in einem kleinen Täschchen am Revers verschwinden ließ.
„Aah... Ja. Natürlich. Der Kunstraub. Herr Trapp, dieser Fall wird der erste in dieser Größenordnung sein, dessen Leitung sie übernehmen. Glückwunsch!“
„Und wie komm ich zu dieser Ehre? Hatten alle anderen Komissare Urlaub, oder was?“
„Nein... Ach was... Also, eigentlich schon, aber ein paar konnten grade nicht und der Lessing jagt immer noch seinen Mörder, sie wissen doch, der Fall mit dem Toten in der Dusche... Na, immerhin war das meiste Blut schon den Abfluss heruntergelaufen, nicht?“
Weder Jan Trapp noch Sophie Lese konnten Misslichs nostalgische Gefühle teilen.
Sophie nicht, weil sie nichts mit dem Fall zu tun hatte, und Trapp nicht, weil er sich nicht viel aus entstellten Leichen machte.
„Wie dem auch sei“, fuhr Misslich fort, die müden Augen geistesabwesend auf Trapps halbvollen Nudelteller gerichtet, „Sie übernehmen den Fall. Ich erwarte Ergebnisse, sobald ich aus dem Urlaub zurück bin. Das ist in... Hat hier wer 'ne Uhr?“
Sophie hatte.
Im Gegensatz zum nächtlichen Einsatz trug sie nicht die Uniform der Streife, sondern ein Outfit, dass Trapp so oder so ähnlich bestimmt schon einmal in einer Wartezimmerzeitschrift gesehen hatte.
Graue Strickjacke über lila Bluse. Im Modejargon konnte man das sicher so ausdrücken, dass es einen gewissen Klang hatte.
Trapp, für den sich Hosen und Pullover nur durch die Anzahl ihrer Löcher unterschieden, konnte das nicht.
Misslich schaute kurz auf die zierliche, hellblaue Armbanduhr an Sophies linkem Handgelenk. 11 Uhr 47.
Wieso gab es eigentlich um diese Uhrzeit schon Nudeln?
„...in 7 Tagen, 3 Stunden und exakt 17 Minuten. Wenn Sie irgendwelche Fragen haben – Sie haben ja meine Nummer.“
Trapp versuchte, seine Nudeln aufzuspießen, aber Misslich ließ ihm so wenig Platz, dass er mit dem rechten Ellenbogen ständig gegen die Betonwand stieß.
„Haben Sie keinen Hunger, Trapp? Ich könnts verstehen – mal unter uns, dieser Bonhoff ist schon 'ne Pfeife“, gluckste Misslich.
„Ähm, ja. Genau. Dann mach ich das mit dem Fall. Gut. Und wo geht’s denn hin, im Urlaub?“
„Costa Deslucida. Im Süden. Schauen Sie...“
Er kramte ein Foto hervor, auf dem ein Misslich mit Schmerbauch, eine deutlich jüngere Frau, ein kleines Kind und ein ziemlich hässlicher Hund vor einem überfüllten Strandpanorama in den Selbstauslöser grinsten.
„Hübsches Tier“, meinte Trapp sarkastisch. Misslich amüsierte sich prächtig.
„Geben sies zu, sie finden den potthässlich. Haben wir aus dem Tierheim, meine Frau hatte Mitleid oder so... Er heißt Sarrazin.“
„Sarrazin?“
„Ist hässlich und mag keine Fremden.“
„Ach so.“
„Also dann – mein Flug geht bald.“
Auf einmal herrschte kurzzeitig so etwas wie dienstliche Diskretion.
„Ach ja, Frau Lese – sie hatten angefragt, von der Streife zurückversetzt zu werden, richtig?“
„Ja, stimmt.“
„Dann machen sie unserem Aushilfskomissar hier für die nächste Woche mal die Assistenz, hmm?“
Kurzer Seitenblick auf Trapp. Kurzes Nicken von Trapp Richtung Sophie.
„Ja. Natürlich. Gut, dann schönen Urlaub, Herr Misslich!“
Der Chef gab beiden noch mal die Hand.
War das nun eher ein feuchter oder ein fester Händedruck? Wie auch immer.
Trapp stellte den Spaghettirest auf den Fußboden, wo Buknu sich direkt über die Mahlzeit hermachte.
Dann warf er sich gespielt dramatisch in Denkerpose. Kunstpause, mal wieder.
Schließlich sagte er mit ruhiger Stimme:
„Ich glaube, wir haben einen Fall.“
„Ja, seh ich auch so.“
In Sophies Augen meinte er einen Funken der Begeisterung zu erkennen. Richtige Einstellung in diesem Scheißjob.
Der Fall schien verzwickt, doch Jan Trapp war schon immer ein begnadeter Kopfarbeiter.
Nicht, dass er je bewusst einen Leitspruch formuliert hatte, um seine Arbeit zu beschreiben, aber es wäre bestimmt irgendetwas mit „Hirn“ gewesen und es hätte sich gereimt, aber nicht auf „Stirn“, das wäre zu einfach.
Vielleicht auf „Zwirn“ oder „verwirr’n“, vielleicht hätte er auch einen Haiku getextet, ein Elfchen gar, aber das war etwas für den Prolog seiner Autobiografie, und was er jetzt brauchte, war keine Biografie, sondern ein Auto.
„Sophie, du hast nicht zufällig einen eigenen Wagen?“, nuschelte er, während er sich darum bemühte, mit den Zähnen der lästigen Reste zerkochter Spülinudeln zu erwehren, die zwischen seinen Zähnen steckten wie zwergwüchsige Apocritar zwischen den Zähnen verlotterter Motorradfahrer.
Die Phrase „Hüte dich vor Weizenstärke, denn sie klebt wie Scheiße“ musste er sich direkt nach Feierabend notieren. Trapp sammelte potentielle Glückskekssprüche.
Schließlich schossen an allen Ecken und Enden die Chinakantinen aus dem Boden, da sollte man frühzeitig investieren und rechtzeitig verkaufen. Er wusste nicht, ob, und wenn ja, wie gut Peking für seine kreativen Ergüsse zahlen würde, aber wer Marktlücken nicht frühzeitig erkannte, musste dann eben Kommissar werden.
„Nein, ist in der Werkstatt“, konstatierte seine jüngst dazugewonnene Kollegin. Das war also der Dank für seine selbstlose Ketchuprettung. Die gezuckerte Tomatenpampe brodelte noch immer hochvergnügt irgendwo zwischen Magenpförtner und Dickdarm.
Ob Tomaten Pilze waren?
Oder Abarten von Parmesankäse?
Oder in diesem Fall abgelaufen?
Aber das war ja gar nicht Inhalt ihres Falles.
„Das ist aber schade“, erwiderte Trapp im latent psychopathischen Tonfall bewusst emotionaler Kinderfernsehmoderatoren. Einen verwirrten Blick mit hochgezogenen Augenbrauen später erklärte er sich.
„Ich finde, wir sollten uns den Tatort noch einmal bei Tageslicht besehen. Und in zivil, schließlich wollen wir ja keine schlafenden Hunde wecken. Wahrscheinlich hat der Regen die meisten Spuren sowieso schon verwischt, aber schaden kanns ja kaum und was Besseres fällt mir jetzt auch nicht ein, also why not, die Pferde gesattelt, auf, auf in den Sonnenuntergang.“
Die bislang recht zügig neben ihm her trabende Kollegin verlangsamte ihren Schritt merklich, offenbar von Trapps Äußerungen irritiert. Einen Augenblick überlegte der Kommissaranwärter, ob sie gleich rückwärts gehen würde, aber offenbar sah sie ihm sein wirres Auftreten noch einmal nach.
„Ja, schön und gut. Vielleicht könnten wir auch noch einmal bei den Nachbarn vorbeischauen und die befragen“, warf Sophie ein, „obwohl Uwe das ja eigentlich gestern schon machen wollte, aber bei so vielen Mitarbeitern steht „Kompetenz“ eher nicht auf der Stirn tätowiert.“
Trapp wollte schon einwerfen, dass das ja auch selten dämlich aussehen würde in ein paar Jahrzehnten, wenn dann ein alter Tattergreis Spuckfäden absondernd im Schaukelstuhl hin- und herwackelt, aber immer noch ein leicht verzerrtes, wenngleich stilistisch astreines „Kompetenz“ in schwarzen Lettern von Ohr zu Ohr…
„Nee“, murmelte Trapp.
„Ist was?“, fragte Sophie.
„Taxi“, entschied Trapp und bewegte sich schnelleren Schrittes durch die verglasten Gänge der Polizeizentrale von Irfanton.
Schrille Quietschgeräusche begleiteten Trapps Weg, schmutzig-nasse Sohlen und blanker Boden waren in jeder Hinsicht eine miserable Kombination. Dankenswerterweise änderte Trapp das ja ohnehin quasi im Vorbeigehen, aber die Putzkolonne wurde ja auch nicht fürs Nichtstun bezahlt.
Mittlerweile hatten sich die Wolken, die am Vormittag noch bedrohlich und allzeit bereit, sich weiter auszuregnen, über der Stadt hingen, irgendwo ins hügelige Umland verzogen, zumindest waren sie unauffindbar, wie Trapp erfreut feststellte.
Auf die Sonne traf das nicht zu, sie stand an Ort und Stelle und leuchtete dem bunt eingefärbten Laub auf die Blattadern, dass das sonst so schmuddelige Panorama blitzte wie ein etwas modrig riechender Regenbogen.
Ungeduldig passierten die beiden jungen Polizeibeamten schließlich die Drehtür, die aufreizend langsam so tat, als wäre sie stinknormalen Türen technisch haushoch überlegen.
Trapp war nicht überzeugt und tippte nervös mit den Zehenspitzen gegen die zu langsam kreiselnde Trennwand, bis er schließlich nach geschätzt fünf unendlich langen Sekunden an die frische Luft trat.
Der Taxistand war ganz in der Nähe, Trapp schätzte, dass sie nicht mehr als 24 Drehtüreinheiten für die Wegstrecke benötigen würden.
„Planpokemon“, grübelte Sophie ins Nichts.
Noch am Mittagstisch hatte Trapp ihr die Inhalte seines zuvor abgehaltenen Verhörs dargelegt. Das war nicht viel und inhaltlich recht mau, aber der Kommissaranwärter kam sich alleine dadurch, dass er endlich mal jemandem sagen konnte, wo es langging, gleich ein bisschen weniger sinnlos vor.
Normalerweise stellte man ihn für die possierlichsten Aufgaben ab, da sollte er einem Hauptkommissar die Uhrzeit zurufen oder einen Verdächtigen so lange unbequem anstarren, bis dieser entweder in plötzlich entbranntem Fieberwahn den Untersuchungsraum architektonisch verschönerte oder zugab, seiner Schwiegermutter mit einem handangespitzten Nudelholz zwölfmal in den abdominalen Bereich gestochen zu haben, wenn es doch eigentlich nur um so etwas Triviales wie einen Tankstellenraub ging.
„Ich glaube, wir sollten uns mit Mettels bekloppter Legende nicht weiter aufhalten, das führt erst mal zu nichts“, schlug Trapp vor.
„Ich hab mal gegoogelt, der erste Treffer zu dem Wort ist irgend so ein schlecht geschriebenes Märchen in einem Kinderforum“, meinte Sophie kopfschüttelnd.
Der Fall lag offenbar noch konfuser dar, als Trapp ihn ohnehin geschildert hatte. Verhältnismäßig ratlos stiegen sie ins Taxi.
„Wohin du Taxi unterwegs?“, erkundigte sich der feist, aber freundlich dreinschauende Fahrer höflich.
„Wiesenstraße 3“, meinte Trapp bestimmt.
„Wisent? Habe viel gejagt damals in Heimat, mit große Gewehr, viele Wisent. Aber nicht mehr dürfen, Liste mit Tiere bedroht, du weißt. Wisentstraße?“
Der Mann unterstrich seine Aussage durch eine Vielzahl ausladender Gesten und zog die einzige Augenbraue hoch.
„Ich nicht gehört.“
Trapp dämmerten die Hintergründe. Aus dem Augenwinkel erkannte er zudem die obligatorische Duft-Tanne, die allerdings diesmal nicht das fabrikneue Fahrgestell simulierte, sondern eigentümlich nach Bratwurst duftete.
Konnte auch der wisentschießende Fahrer sein.
„Ähm, Entschuldigung“, räusperte sich Trapp.
„Ich meinte natürlich die Straße, deren Namen niemand kennt.“
Wisent-Django nickte wissend und trat aufs Gas. Irfanton schien seine Legenden zu pflegen.
Verständlich, es hatte auch nur eine.
Wobei Trapp das fast ein bisschen schade fand.
Man könnte gut und gerne noch eine kleine Anekdote zur Stadtgeschichte hinzufügen, irgendetwas Gruseliges mit klebrigen Spaghetti und Kastanienlaubsumpf.
Trappokalypse now.
Dafür würde er keinen Glückskeks benötigen, sondern eine ganz Glücksprinzenrolle.
Sophie verbrachte die Fahrt seltsam verschwiegen. Sie hatte sich einen pastellfarbenen Schal um den Hals gewickelt, Trapps analytisch abgerichteter Cortex interpretierte das als Modebewusstsein, Halsweh und Präventionsmaßnahme gegen das Mistwetter.
Gemütlich rumpelte die Blechdroschke über schlecht geflickten Asphalt und spritzte kleine Familien mit dem Abwasser aus Pfützen nass.
Wenige Drehtüreinheiten kamen die Reifen quietschend zum Stehen, Trapp zahlte und gab ausnahmsweise sogar Trinkgeld, um schließlich hinaus auf die Straße zu treten. Die Wiesenstraße hatte offenbar nicht nur mythologische Besonderheiten, sie war noch dazu verflucht lang.
Natürlich hatte man ihn und seine Begleitung an der exakt falschen Ecke abgesetzt.
Scheißjob.
Trapp gewährte Buknu ein wenig Frischluft, Sophie schloss sich der Idee an und ließ ihrerseits den Pokeball aufschnappen.
„Wieso wolltest du eigentlich Polizist werden?“, bemühte sich Sophie um ein wenig Konversation.
„Naja, sehe ich aus, als könnte ich etwas Anderes?“
„Dir hängt dein Hemd aus der Hose, dir klebt Ketchup am Mundwinkel und du bist nur unbedeutend weniger anstrengend als witzig. Wenn es nach dem Aussehen geht, kannst du gar nichts“, analysierte Sophie verschmitzt.
Trapp setzte einerseits zur Antwort an, fuhr sich aber gleichzeitig in einem Reflex über den Mund, um die Speisereste endgültig zu entfernen. Dabei biss er sich fast auf die Hand, was den Gesamteindruck nicht unbedingt abmilderte, es sei denn, es sah gewollt und lässig aus, aber aus irgendeinem Grund war sich Jan Trapp dessen nicht allzu sicher.
Sophie lachte.
„Verplant ist gar kein Ausdruck“, meinte sie.
„Nicht jeder schafft es in den gehobenen Dienst“, gab Trapp zu bedenken.
„Stimmt wohl. Aber ist ja jetzt auch nicht weiter tragisch.“
Unterdessen vergnügten sich Buknu und Rabicet mit einem im Gebüsch nach Beeren suchenden Kleintier, das Trapp irgendwann einmal in einem Dokumentarfilm über irgendetwas mit Flussbewohnern und Umweltverschmutzung gesehen hatte.
Vielleicht sollte er es einfangen und für spätere Zeugenaussagen behalten.
Andererseits hatten derzeit wohl sämtliche Dolmetscher zu tun oder Lebensmittelvergiftungen. Manche mochten im Urlaub sein und fleißig Wisente schießen, erreichbar war zumindest keiner der faulen Bande.
An einer Litfaßsäule, die pompös die bevorstehenden kulturellen Highlights des Örtchens und ein Prostatamedikament bewarb, machte sich ein Junge von etwa 16, 17 Jahren zu schaffen und leimte ein selbsterstelltes Plakat über eine klassische Konzertveranstaltung.
Unterstützt wurde er dabei von zwei farbeagleartigen Gestalten, die sich im Wechsel selbst bemalten und ansonsten unanständige Symbole auf die verbliebenen Plakatflächen kritzelten.
„Hey, Freundchen“, rief Trapp dem Litfaßsaulus zu.
„Das musst du anmelden!“
Der Junge schaltete auf Durchzug oder hatte wieder diese bescheuerten Musikstecker im Ohr, Trapp wusste es nicht, aber er musste es auch nicht.
„Pssst“, machte Sophie.
„Verschreck das Kerlchen nicht gleich. Vielleicht treibt der sich hier öfter rum und hat was gesehen.“
„Guter Gedanke“, murmelte Trapp.
Der Kommissaranwärter tippte dem Schmierfink auf die Schulter.
Der müde aussehende junge Mann nahm die Stöpsel aus dem Ohr.
„Jan Trapp, Kriminaldienststelle Irfanton, das ist meine Kollegin Sophie Lese“, floskelte Trapp vor sich hin und zeigte seinen Ausweis vor.
„Wir kommen in Frieden“, fügte er beschwichtigend an, als sich die Augen des Angesprochenen vor Schreck weiteten. Klang allerdings in dieser Form irgendwie nach Alieninvasion, das wäre dann weniger beschwichtigend.
„Hören Sie, Officer, ich mache das für einen guten Zweck. Kennen Sie die Bürgerinitiative „Fahrradfreundliches Irfanton“ nicht?“
„Hä?“
Trapp blickte ein wenig belämmert aufs Plakat, das lauthals die Notwendigkeit neuer Fahrradwege für die Ortschaft verkündete. Keine schlechte Idee, nur hatte Trapp kein Rad mehr, dem gegenüber man freundlich sein könnte.
„Hier ein Fragebogen für die Dame.“
Der Junge händigte Sophie Kugelschreiber und Zettel aus.
„Gut, damit hätten wir das geklärt.“ Trapp fühlte sich ein wenig überrumpelt.
„Also, Sie sind…?“
„Meine Freunde nennen mich Rainer“, flüsterte das Plakatmännchen zu beschwingt, um nicht unter dem Einfluss irgendwelcher Substanzen zu stehen.
„Wie der Regen, nur… Du weißt… Anders, son bisschen.“
Trapp blickte erbost zu Sophie.
Und er sollte verplant sein?
Dieser eklige Beinahe-Banksy hier war ja wohl weitaus schlimmer als alles, was in seinem Hirn an Unfug vor sich ging!
Doch seine Kollegin schien ganz in das Zettelchen vertieft, auf dem sie konzentriert ihre Kreuze setzte.
„Also, Bruder“, betonte Trapp aggressiv.
„Wo warst du gestern gegen Mitternacht?“
„Zuhause“, kam es wie aus der Pistole geschossen zurück.
„Menschen aus dem Fenster beobachtet.“
„Und wo ist dein Zuhause?“
Der Junge wies auf eine viktorianische Villa auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
„Gleich da drüben.“
„Hast du irgendetwas Verdächtiges gesehen?“
„Dunkle Mäntel, seltsame Typen, knutschende Pärchen, Frauen mit Hund, und wow, es war langweilig.“
Trapp musste an sich halten, um den Plakatkleber nicht am Kragen zu packen.
„Das hilft uns allen nicht weiter, mein Freund.“ Sophie händigte ihm unterdessen den fertig markierten Fragebogen aus, den der Junge kurz überflog.
„Immerhin haben Sie die Fragen auch richtig gelesen und nicht einfach irgendwas hingeschrieben“, freute dieser sich.
„Die meisten, die so einen gekriegt haben, machen da nix Konstruktives draus. Aber Sie können einen Fragebogen auch ausfüllen.“
„Danke, Rainer“, wiegelte Sophie ab.
„Aber das steht jetzt nicht zur Debatte. Wir ermitteln in einem schweren Kunstraub. Vielleicht haben sie letzte Nacht das ein oder andere Martinshorn gehört.“
„Oder meine Fahrradklingel“, ergänzte Trapp.
„Sagen sie das doch gleich“, entgegnete der Junge, ohne von seinem Plakat aufzusehen.
Die Farbeagle fügten der Straße derweil einen zusätzlichen Zebrastreifen bei.
„Aber ich hab echt nix Großes gesehen, echt nicht. Werde aber die Augen offen halten. Schönen Tag noch, die Damen und Herren Kommissare!“
Kopfschüttelnd ließen Trapp und Sophie den seltsamen Kerl zurück.
Es wurde Zeit, dass sie den Tatort ein weiteres Mal inspizierten. Ihn untersuchten.
Auf Indizien, die bislang übersehen wurden, und sei es nur, weil es in der Spurensicherung nicht ausreichend Schilder gab.
Die Regentropfen vorangegangener Schauer tänzelten auf den Streben der anthrazitfarbenen Pforte.
Jan Trapp fand, dass sich nasses Metall immer irgendwie schmierig anfühlte. Sowieso geschahen seltsame Dinge, wenn Gegenstände mit Wasser in Berührung kamen. Hunde fingen an zu stinken, mit ihm selbst geschah das Gegenteil, weiße T-Shirts wurden transparent. Eher opak mutete der dichte Urwald rings um ihn und die hinter ihm auf das Grundstück getretene Sophie an. Jetzt noch ein Tropenhut und er würde einen täuschend echten Amazonasforscher abgeben, nur mit weniger Amazonas. Wobei er nicht wusste, ob sich irgendwo abseits des durch helle Platten kenntlich gemachten Weges nicht die eine oder andere Stromschnelle verbergen mochte. Bestimmt konnte man hier auch gut Pilze sammeln.
„Kann der sich keinen Gärtner leisten?“, spottete Sophie aus dem Hintergrund.
Natürlich könnte Mettel, wenn er wollte. Aber wozu auch englischen Rasen trimmen, wenn sich irgendwo im Dickicht die Wisente verstecken mussten. Ob Trapp da etwas durcheinander brachte? Wer wusste das schon.
Der Kommissaranwärter höchstselbst musste nun allerdings zunächst einmal wissen, ob irgendjemand vor ihm womöglich etwas durcheinander gebracht hatte. Vielleicht waren Halme plattgetreten, womöglich existierten tiefe Fußspuren im aufgeweichten Erdboden – doch nein, nichts dergleichen. Im Eingangsbereich gab es einige Flächen, auf denen sich die Profile diverser Sohlen tummelten, aber Trapp erinnerte sich, dass sich das gestrige Polizeiaufgebot an diesem Fleckchen versammelt hatte. Wenn es Indizien gab, hätte das Gesetz sie bereits vernichtet, als wären es Akten zum Rechtsterrorismus.
Wahrscheinlicher aber war, dass die wuchernde Grünfläche schlichtweg nicht betreten worden war. Umso betretener hingegen war der Gesichtsausdruck des heute weniger nobel daherkommenden Sir Mettel, als er ihnen nach kurzem Klopfen die Tür öffnete. Trapp ließ sein Buknu erneut im blau-silbernen Polizeipokéball verschwinden, Sophie tat es ihm mit Rabicet gleich. Schließlich schickte es sich nicht, bei so einer stink- wie einflussreichen Persönlichkeit den teuren Designerteppich aus einhundert Prozent goldenem Vlies mit so etwas proletarischem wie Pfotenspuren zu besudeln.
Müde und kopfnickend gab Mettel den Polizisten einen Wink. Trapp folgte ihm durchs Parterre, Sophie verstaute ihren Schal schnell an der Garderobe und kam dann nach. Über eine unscheinbar in die Wand eingelassene Wendeltreppe, einen Schleichweg offenbar, führte sie der immer etwas schmächtig und zerstreut wirkende Hausherr in eine Art Gästezimmer, das jedoch noch immer pompöser wirkte als Trapps Wohnung als Ganzes.
Eine in steter Folge leise, piepsende Geräusche von sich gebende Petroleumlampe tänzelte in Spiralen um die Tischbeine und emittierte Lichtquanten in der empfohlenen Tagesdosis eines Gruselschlösschens. Trotz seiner hochherrschaftlichen Ausmaße wirkte der Raum warm und gemütlich, und immerhin war in diesem Fall nur der Tisch einem Antiquitätengeschäft entsprungen, die Stühle hingegen erinnerten an die drehbaren Businesssessel, über die jeder zweite Schreibtisch im Großraumbüro der Irfantoner Polizei verfügte. Der Etat musste von Jahr zu Jahr gesenkt werden, da in Irfanton so viel nun wirklich nicht passierte und man die ständig urlaubenden Kollegen ja auch von irgendetwas bezahlen musste, deswegen hatte nicht jeder einen Drehstuhl zugewiesen bekommen und an vollen Tagen erinnerte das Treiben ein wenig an eine Reise nach Jerusalem des Innendienstes, aber so war der Job, fressen und gefressen werden, und Trapp, ehrgeizig, wie er war, fraß alles außer Parmesan.
Er hatte immer Drehstühle.
Mettel verließ für einen Augenblick den Raum, während sich Sophie und Trapp nebeneinander an die karg und leer wirkende Tafel gesellten.
"Hast du ihn nicht heute schon einmal verhört?“, zischte Sophie zu ihm rüber.
„Ja, denke schon. Aber auf nüchternen Magen stellt man schüchterne Fragen. Alte Bauernregel.“
„Ich zweifel deine Bauernschläue ja auch gar nicht an“, flötete seine Partnerin in einem Tonfall, der das exakte Gegenteil vermuten ließ. Mettel kam erneut durch den Türspalt geschlurft und setzte sich gebieterisch an die Tischkante.
„Ich habe einen Tee aufgesetzt“, verkündete er hüstelnd. Trapp musterte ihn kurz und wollte schon fragen, ob der Tee runtergefallen sei, da nicht mehr auf Mettels Kopf, dann dämmerte ihm, dass „Tee aufsetzen“ wohl adelig für „Wasser warm machen, um nachher Beutel reinzuhalten“ war.
Immer diese Idiome, Trapp war nicht gut in Fremdsprachen, nur Schweizerdeutsch meinte er, zu können, aber das war etwas für Polterabende und Grillpartys, das hier war ein Kriminalfall, da musste man in harten, kurzen Sätzen reden und schon mal auf den Tisch hauen. Letzteres unterließ Trapp bewusst, niemand wusste, ob das prähistorische Möbel splittern oder gar brechen würde. Stattdessen eröffnete allerdings Sophie die Konversation und deutete auf irgendeinen gerahmten Farbfleck an der Wand, dem Trapp wenig Beachtung geschenkt hatte.
„Sammeln Sie eigentlich in eine bestimmte Richtung, haben Sie die Kunstschätze geerbt oder richten Sie unabhängig vom Thema, passend zum Zimmerstil ein?“
Mettels schläfriger Blick klarte sich schlagartig auf, er schob seinen Stuhl zurück und trat zur Wand.
„Also, dass, Frau…“
„Lese“, erwiderte Sophie.
„Sophie Lese.“
„Lese wie die Weinernte?“
„Nein, wie der Esel von hinten“, warf Trapp ein.
Mettel verzog das Gesicht und Sophie rollte mit den Augen. Der junge Adlige fuhr unbeeindruckt fort.
„Das hier“, er deutete auf das schwach angeleuchtete Abbild eines nicht näher definierbaren Irgendwas und senkte die Stimme, als wäre die Kleckserei ein Grund zur Ehrfurcht, „ist ein echter Claude Eckel, Kreide auf Leinwand, 1924. Den habe ich vergangenen Herbst bei Pokéby’s ersteigern können.“
Er wartete auf eine Reaktion der Fragestellerin, die schnell ein höfliches Nicken hinterherschob. Mettel fuchtelte kurz mit den Händen, als wolle er Mücken verscheuchen, und setzte dann erneut zum Reden an.
„Die meisten meiner Werke sind allerdings Erbstücke. Der Tisch, an dem sie hier sitzen, gehörte einst der großen Elke Pohn. Kennen Sie? Kennen Sie nicht? Dunkles Kapitel der Familiengeschichte. Wie auch immer“, er fummelte sich eine Haarsträhne aus dem Asketengesicht, „vieles zeichne ich auch selbst. Es ist also alles dabei. Und es kommt auch immer darauf an, stimmt’s?“
Worauf es ankam, ließ er offen. Immerhin hatte er sich wieder gesetzt, Sophie schickte dem Dampfplauderer noch ein paar anerkennende Floskeln hinterher, während Trapp Däumchen drehte und versuchte, im Kopf den Winkel zu schätzen, den der kleine und der große Zeiger seiner Armbanduhr in diesem Augenblick – es war 13:47 Uhr – einschließen mochten. Allerdings hatte er ja immer noch einen Fall zu lösen.
„Also, Herr Mettel. Bezüglich der Planpokémon…“ Ein schrilles Pfeifen unterbrach jäh Trapps halbgare Konversationsversuche. Hausherr Mettel nuschelte irgendetwas von „Tee ist fertig“ und verschwand schon wieder.
„Nerviger Kerl“, konstatierte Trapp, als sich die Tür zum Nebenzimmer geschlossen hatte.
„Was hat er dir denn getan?“, hakte Sophie nach.
„Vielleicht ein bisschen steif, aber immerhin hat er Geschmack.“
Trapp wollte sich schon über diese maßlose Untertreibung empören und so etwas sagen wie „Der hat keinen Stock im Arsch, da klemmt Minimum ein ganzer Satz Mikadostäbchen!“, verkniff sich den vulgären Ausrutscher aber noch eben gerade, als Mettel samt vogelartigem Hilfs-Pokémon hereinkam, um den vorgezogenen Kaffeetisch zu decken. Leise brodelte der Tee in Trapps Porzellantasse vor sich hin.
Er war nicht unbedingt der Tee-Mensch, aber er wollte das kunstsammelnde Pseudo-Königskind nun nicht auch noch mit einer Bitte um Fanta irritieren. Mettel hingegen öffnete eine kleine, silberne Schachtel und wandte sich an Sophie:
„Praline?“
„Meinen Sie mich?“
„Ich meine das Konditoreierzeugnis in der Schale da, aber ich frage sie.“
„Ja, gerne.“
Trapp gähnte in seiner Tischecke. Er bekam nichts dergleichen angeboten, was ein wenig sexistisch war, doch der Kommissaranwärter entschied sich nach kurzem Überlegen dagegen, im Gegenzug eine öffentliche Beschwerde auf Twitter abzusetzen. Am Ende waren da Trüffel drin, und das waren ja auch nur Pilze, genau wie Champagner nur Fusel war und Kaviar nur Stör-Eier.
Aber der einzige Störfaktor, mit dem er derzeit zu tun hatte, war ein neureicher Feingeist, der offenbar die Unparteilichkeit der Polizei auf die Probe stellen wollte. Da der Tee sowieso zum Trinken zu heiß war, entschied sich Trapp für Tacheles:
„Also, Sir… Herr… Öhm… Mr. Mettel.“
Das mit der Anrede flutschte schon mal. Trapps rhetorisches Talent hatte wohl gerade Urlaub oder war zumindest auf Kur oder wo man sich heutzutage befand, wenn man nicht faul klingen wollte. Egal, der Kommissaranwärter fasste sich schnell wieder.
„Wer hätte alles rein theoretisch Zugang zum Atelier gehabt?“ Mettel hüstelte und öffnete den oberen Hemdknopf. Offenbar war er ein wenig erkältet.
„Nun, sie haben doch gesehen, dass die Fenster eingeschlagen waren. Meine Werke brauchen das Sonnenlicht, müssen Sie wissen, große Fenster sind da absolut obligatorisch, sonst wirkt das Werk stumpf und traurig“; erklärte er in stumpfem wie traurigem Tonfall. Trapp grinste sein verstörendstes Verschwörergrinsen und beugte sich einmal quer über den Tisch.
„Mag ja sein“, entgegnete der junge Polizeibeamte, „aber haben Sie sich mal angesehen, wo das ganze Glas liegt? Alles draußen, düngt gerade ihre schöne Chrysanthemenhecke oder was das auch immer für ein Obst ist, das sie da liegen haben. Da ist niemand durchs Fenster eingestiegen, wär ja auch schön blöd, bei den ganzen zackigen Splittern, die da noch hängen. Herr oder Frau Kunstbanause hat von innen gewütet…“
„…und muss durch die Tür gekommen sein“, ergänzte Mettel nachdenklich.
Trapp sah, dass diese Erkenntnis seinem Gegenüber bislang noch nicht gekommen war. Ihm fielen solche Dinge auf, das war einfach, das ging gut, nur so simple Dinge wie offene Schnürsenkel übersah er gerne mal, doch das machte ihn nicht verplant, nein, es machte ihn unberechenbar wie die letzte Nachkommastelle von Pi.
Mettel unterdessen hatte den Kopf in die Hände gestützt und dachte nach.
„Die Alarmanlage ist nicht angesprungen“, wiederholte er das Offensichtliche.
„Jemand muss den Code gekannt haben.“
„Code?“, wiederholte Trapp verblüfft.
Garten und Haus erinnerten mehr an Präkambrium denn an ein modernes Hochsicherheitszentrum. Offenbar hatte Mettel allerdings auch ein Faible für die elektronische Eigentumssicherung.
„Man muss einen vierstelligen Zahlencode eintippen, um ins Atelier zu gelangen“, erläuterte Mettel.
„Das ist wie beim Geldabheben. Bloß, dass die Werte in meinem Atelier… Sagen wir, deutlich brisanter sind.“
„Und wie lautet dieser Code?“, wollte Trapp wissen.
„Das kann ich Ihnen leider nicht sagen“, wehrte der junge Adlige ab. Schweißperlen traten ihm auf die Stirn.
„Ich hüte diesen Code wie meinen Augapfel.“ Trapp fand diesen Vergleich durchaus passend, er hatte neulich einen Film gesehen, in dem sich die Türen nur für vom Iris-Scanner autorisierte Personen öffneten. Er kannte auch einen Film über einen Typen, der von Pralinenschachteln redete, aber dazu fiel Trapp kein passender Vergleich ein, also hakte er einfach weiter nach.
„Hat außer Ihnen noch jemand Zugang zu diesem Code? Haben sie ihn irgendwo aufgeschrieben oder aufbewahrt?“
Mettel atmete einmal tief durch.
„Ja, ich kenne eine weitere Person, die von der Zahlenfolge weiß.“
„Und, wer ist diese Person, die Sie kennen?“ Trapp hatte gewonnen. Mettel nicht, er druckste herum, fasste dann allerdings einen Entschluss.
„Sie hat eine kleine Villa in Schaberode. Wissen Sie, das Ganze liegt etwas komplexer… Kommen Sie einfach mit, ich fahre den Wagen vor und dann werden sie sehen, was ich meine.“
Der seltsame Vogel, der immer noch mit Teekanne um sie herumstand, verließ das Zimmer. Trapp und Sophie schütteten sich die Reste ihres Heißgetränkes in den Rachen und warfen sich kurz einen Blick zu.
„Gut“, bestätigte Sophie in Ermangelung sinnstiftenderer Konversationsbausteine. Der Vogel hatte mittlerweile ihren Schal von der Garderobe gepflückt und hielt ihn ihr hin. Selbst die Haustiere haben hier Gentlemancharakter, fiel Trapp auf.
„Wir sehen uns draußen“, rief Mettel ihnen nach, während Chamane die beiden durch einige prunkvolle Gänge bis zu einem weiteren, der Wiesenstraße abgewandten Ausgang geleitete.
Durch die Hintertür fanden Trapp und Sophie zurück an die frische Luft. Mittlerweile stand die Sonne endlich wieder buchstäblich hoch im Kurs, wäre Jan Trapp eine Photovoltaikanlage gewesen, er hätte seine helle Freude an diesem Wetter gehabt. Aktuell war er jedoch ein Mann mit einem Fall, und da reduzierten sich seine Serotoninlieferanten auf Walnüsse und Fallabschlüsse.
Letztere warfen ihre Schatten voraus. Mit Erstaunen wurde der Kommissaranwärter nun aber anz fallunabhängig Zeuge davon, wie seine Kollegin sich einen ettikettfreie Packung Zigaretten aus der Tasche zog, um sich eine davon per Feuerzeug anzuzünden.
„Du rauchst?“, fragte Trapp mit echtem Erstaunen. Es mochte an der Dufttanne liegen, aber bislang hatte er von diesem Laster noch nichts riechen können. Außerdem mochte er keine Raucher. Wäre er eine Kuh, würden sich Trapp schon beim Geruch so einer Zigarette vier Mägen gleichzeitig umdrehen. Sophie hatte den Vorwurf herausgehört und zog ihre Flunsch schneller als ihr Schatten.
„Eigentlich nicht“, meinte sie leise und schuldbewusst.
„Hab vor zwei Jahren aufgehört. Aber aktuell ist’s ein bisschen stressig, weißt du… Man überarbeitet sich schnell und nach Dienstschluss ist das Leben auch noch kein Zuckerschlecken.“
Eine längere Pause folgte. Trapp hatte den Eindruck, einen Punkt angesprochen zu haben, dem der Mantel des Schweigens besser gestanden hätte. Mettel ließ sich noch nicht blicken. Irgendwann entschloss sich Trapp, die Stille zu durchbrechen.
„Mir gefällt nicht, wie dieser Typ sich inszeniert.“
Sophie nahm zur Antwort einen Zug von ihrem Glimmstängel und pustete den Rauch dankenswerterweise nicht in Trapps Richtung.
„Und das macht dich stutzig?“, fragte sie.
„Das muss mich nicht stutzig machen, ich bin schon stutzig“, erklärte Trapp säuerlich.
„Na denn“, befand Sophie und drückte die Zigarette am regenfeuchten Gitter der Eisenpforte aus. Der Hintereingang unterschied sich optisch vom Vordereingang kaum, bloß, dass der Weg zu Haus und Garage geteert statt von Marmorsprenkeln dominiert war.
Zwei Scheinwerfer tauchten vom Grundstück her auf, ein pechschwarz glänzender Oldtimer folgte. Mettel kurbelte die Scheibe runter.
„Steigen Sie ein!“, rief er den beiden zu, offenbar nun gar nicht mehr so verschnupft, vielleicht hatte er sich eine Aspirin eingeworfen, womöglich beflügelte ihn aber auch der ungelenke Charme der nicht-so-adeligen Welt, ihn die er hineingezogen wurde.
Die Momente kamen und gingen, in denen Jan Trapp sich wünschte, eine handliche Sauerstoffflasche samt Schnorchel griffbereit mitzuführen. Der tiefere Sinn darin bestünde keineswegs im Erzielen sportlicher Höchstleistungen - eine Taucherbrille und Schwimmflossen hätte er sich ja sonst direkt dazu wünschen können, wenn er denn noch mehr Wünsche frei hätte, doch das tat er keineswegs – es ging vielmehr ums nackte Überleben. Wobei Nacktheit das Überleben in der aufgestauten Gluthitze der pechschwarzen Limousine womöglich noch erleichtert hätte.
„Geht es Ihnen gut?“, erkundigte sich Mettel, die eine Hand am Steuer, die Andere frei und orientierungslos über dem Armaturenbrett schwebend, wie um seinen Beifahrern zu bedeuten, dass auch er nicht wusste, wo hier die Heizung an- oder ausging. Sophie traute sich auf dem Beifahrersitz offenbar nicht, seiner Durchlaucht auf die Sprünge zu helfen. Immerhin wirkte sie den Umständen entsprechend tiefenentspannt und deutlich fitter als ihr Kollege. Schweiß perlte als unbeständiges Rinnsal von Trapps Stirn auf die womöglich sündhaft teure Ledergarnitur.
Ob er sich Sandsäcke über die Nasenwurzel klatschen sollte, um nichts zu überschwemmen? Und gab es da kein technisches Hilfswerk oder wenigstens eine Feuerwehr für? Seit knapp 10 Minuten harrten sie nun schließlich schon gemeinsam im Fegefeuerferrari des bestohlenen Vorzeigeschnösels aus und ließen sich munter durch die Landschaft kutschieren. Mettel hatte die Bitte ausgeschlagen, ein Fenster herunterzukurbeln – die fadenscheinige Ausrede, irgendetwas mit Schnupfen, hatte Trapp geflissentlich überhört.
Wartezimmer waren doch teils ganz lauschige Örtchen, an denen es gute Zeitungen und viele nette Menschen mit spannenden ansteckenden Krankheiten kennenzulernen gab.
„Es ging mir nie besser“, murmelte der Komissaranwärter mit verbissener Miene zur Antwort. Mettel nuschelte noch etwas, das in Trapps Ohren wie „spricht nicht gerade für Sie“ klang, und wechselte den Radiosender von irrelevanten Regionalnachrichten auf andere irrelevante Regionalnachrichten, verlesen von einer haarsträubend nervtötenden Moderatorenstimme.
„Nach Wochen des zähen Ringens kommt Bewegung in das Bauvorhaben Westtangente. Kurt Timmerhorst, Leiter des Irfantoner Bauamtes, sagte dazu…“
„Mr. Mettel, wäre es möglich, dass mal irgendwas Musikalischeres aus Ihrem fahrbaren Orchestergraben dröhnt?“
Der junge Adlige drehte sich zum schlaff auf der Rückbank hängenden Trapp um.
„Was wollen Sie denn hören?“
„Alles außer Metal“, entgegnete Trapp, in der Hoffnung, dass seine kleine Provokation nicht auffallen würde. Der Seitenhieb schien am blaublütigen Kunstfreund vorübergegangen zu sein. Während das schwarz glänzende Geschoss blind über die Landstraße jagte und sich Schlagloch für Schlagloch mit klebrigem Straßenstaub puderte, kramte Mettel in der CD-Ablage.
„Ich hab hier „Vogelstimmen aus dem Vertania-Wald, aufgenommen in der Morgenröte“. Das entspannt mich immer gut, nach dem Joggen oder im Winter, wenn… Ach, sie wissen ja gar nicht, Vogelstimmen im Winter! Man denkt, sie sind verschwunden, manchmal kommen sie noch an die Meisenknödel, doch…“
Ein reflexartiger Tritt Trapps in die gut gepolsterte Rückenlehne seines Vordermannes unterbrach den Vorschlag jäh. Dann eben keine Musik. Hin und wieder wagte Trapp einen Blick aus dem Fenster, in der Hoffnung, dass ihm schlecht würde und er somit eine legitime Ausrede hätte, sich von diesem jämmerlichen Fall beurlauben zu lassen.
Das machte schließlich heutzutage jeder. Kunstdiebstahl. Wie profan!
Gerade für jemanden wie Trapp, der sich bereits vor Monaten mit einem Bein im Morddezernat gewähnt hatte. Erst später stellte sich heraus, dass es sich dabei um den tragischen Arbeitsunfalls eines einsam verbluteten Schreiners gehandelt hatte. Von diesem Tag an war Trapp vorsichtiger geworden, was das Bewerten von Indizien anging. Und die Indizien im vorliegenden Fall stellten sich nach wie vor als sehr vage dar. Nur eins ließ sich nicht von der Hand weisen: Kuchenteig war mindestens so atembar wie dieser Klumpen Luft.
Irgendwo zwischen Wachsein und Fiebertraum öffnete sich eine Tür und kühle, frühherbstliche Luft strömte ins Wageninnere. Mit einer Mischung aus Schlusssprung und Judo-Falltechnik stolperte Jan Trapp aus dem Metallkäfig ins Freie. Wie durch ein Wunder hielt er die Balance. Missgelaunt kickte er einen großen Kiesel über den sandigen Parkplatz, auf dem sie angehalten hatten.
Sophie und Mettel waren offenbar schon vor ihm aus dem Wagen gestiegen. Durch Tränen und Schweiß hindurch linste Trapp auf die Anzeige seines chinesischen Chromoptik-Chronometers am Handgelenk. Exakt 14 Uhr. Und 20 Uhr in Peking. Dort wurden wahrscheinlich gerade die Hunde verdaut, vielleicht hatte man sich ja Parmesan dazu gegönnt, das mochte von Haushalt zu Haushalt unterschiedlich sein.
„Wäre ich mein Hund, ich würde mich nicht am Fußende schlafen lassen“, bemühte sich Trapp, thematisch von seinen Abschweifungen zum Smalltalk inspiriert, die sich immer betäubender ausbreitende Stille zu durchbrechen.
„Wofür gibt es Hundehütten“, kam es süffisant aus Sophies Richtung. Ungeduldig trommelten ihre schlanken Finger gegen die Windschutzscheibe der Limousine, die das einzige Fahrzeug auf diesem Parkplatz in der Einöde war. Mettel unterdessen war damit beschäftigt, ein viel zu modernes Smartphone aus den Untiefen seiner maßgeschneiderten, gleichzeitig vornehm und leger wirkenden Jeanshose zu kramen. Trapp ging ein paar Schritte auf und ab und rotierte leicht mit den Schulterblättern, um dem seit der Nacht im Polizeiwagen ordentlich verspannten Nacken entgegenzuwirken. Er nahm einen tiefen Zug Frischluft und schmeckte das Salz seines eigenen Schweißes neben kleinen, umherschwirrenden Fliegen auf seiner Zunge.
Er wusste, wo sie sich befanden. Die Metallstangen, die schief und krumm aus der umgepflügten Grünfläche direkt vor ihnen ragten, verrieten, dass an dieser Stelle noch vor kurzem ein Fußballplatz existiert hatte. Die Markierungen waren Disteln gewichen, die zumeist jugendlichen Kickern Maulwürfen und Spitzmäusen und das kleine Vereinsheim auf der nahe gelegenen Anhöhe war heute eine Praxis für Krankengymnastik, in der ein dicker Finne Hausfrauen einrenkte und die Wirbelsäulen traurig guckender Dorfkinder von etwaigen Knoten und Mäandermustern befreite.
Das Ganze wirkte recht hügelig, hier und da lag ein Fleck Erdreich brach und war gar nicht erst von aufmüpfigen Grashalmen bewachsen. „Hat ein bisschen was von Mondlandschaft hier“, befand Mettel aus dem Off.
„Ja, bloß mit mehr Schnittlauch aufm Fußboden“, entgegnete Trapp abfällig.
„Und mit mehr Schwerkraft“, mischte sich Sophie ein, die mittlerweile ihr Rabicet erneut aus dem Pokeball entlassen hatte, welches unprofessionellerweise die neu gewonnene Freiheit dazu nutzte, über die vom Regen der Nacht durchgeweichte und pfützenübersäte Grünfläche zu hopsen, als gäbe es kein Morgen. Das hier war der Ortsrand von Schaberode.
Trapp verband mehr als eine peinigende Erinnerung mit diesem Blinddarm der Zivilisation, welcher sich über die letzten Jahre fast zur Kleinstadt entwickelt hatte. Nicht wenige spielten auf dem wenige Meter entfernten Sportgelände, von dem Trapp froh war, dass er es damals in der E-Jugend seiner lokalen Gurkentruppe lebend verlassen hatte.
Damals, das war High Life im Dobermannzwinger.
Aber es hatte ihn abgehärtet, und viele seiner Gegenspieler von einst kochten heutzutage Spaghetti oder schütteten Parmesan in Abfalleimer, anstatt ihn an Dritte-Welt¬-Länder oder die Tafel oder irgendwelche käsebasierten Crowdfunding-Projekte zu spenden, wenn es so etwas denn gab. Mühsam nur konnte sich Trapp von den Erinnerungen lösen, die das Déjà-Vu mit dem Relief des Landstrichs in ihm hervorgerufen hatten, und bemühte sich, den Fall nicht aus den übermüdet vor sich hin starrenden Augen zu verlieren.
„Und wo genau geht’s jetzt lang, eure Lordschaft?“
Trapp drehte sich um. Offenbar hatte Mettel ihn nicht gehört, kam nun allerdings sichtlich desorientiert von einem Baum geklettert, der seinen Phänotyp grob an den schiefen Turm von Pisa angelehnt hatte und rote Früchte die trug, die entweder lecker, giftig oder beides waren.
Trapp war sich da nicht mehr allzu sicher und hatte irgendwie schon wieder Hunger. Spaghetti waren eben doch nur etwas für den hohlen Zahn und hohle Zähne waren etwas für Zahnärzte, nicht für Polizisten.
„Was machen Sie da im Gebüsch?“
Dem Blaublüter war jede Farbe aus dem Gesicht gewichen, entweder fühlte er sich ertappt oder es handelte sich um eine unschöne Spätfolge seiner vogelwilden Autofahrt. „Ich hatte kein Netz“, stammelte Mettel und steckte das Smartphone weg. „Jetzt haben Sie da jede Menge Netz“, merkte Trapp an. Dass die Fäden dieses Netzes eher von einem Spinnentier als von der Telekom stammten, sah der junge Adlige dann selbst. Pikiert rümpfte er die Nase, kümmerte sich allerdings nicht weiter. „Nun denn, dann wollen wir mal. Folgen Sie mir einfach! Das Schaberoder Umland gilt so ein bisschen als Everglades des kleinen Mannes, also immer gut aufgepasst, wo sie hintreten!“ Während Mettel sich mit Fremdenführer-Attitüde in die Brust warf, folgten Jan Trapp, Sophie Lese sowie ihre Begleitpokémon – auch Buknu erhielt seine wohlverdiente Frischluftzufuhr – dem Kunstsammler über Trampelpfade und Schleichwege, immer ein bisschen zwischen Wald- und Hügelland flanierend.
„Der noble Herr trägt übrigens heutzutage wieder Fliege“, raunte Sophie ihrem Kollegen zu. Jan Trapp verstand nicht sofort. Mit einem Kopfnicken deutete Sophie auf die Stelle am Revers des jungen Adligen, die das Spinnennetz zierte – tatsächliche hatte sich eine zu Speisezwecken eingerollte Snack-Fliege im Schutz des Netzes auf Mettels Hemd niedergelassen.
Kleider machten Leute.
Und Insekten machten Kleider schmutzig. Der Fußmarsch war länger, als sie erwartet hatten, und Trapps Magen knurrte mal wieder bedenklich. Da war er wieder, der Dobermannzwinger. Vielleicht konnte er am Waldrand Pilze sammeln. Buknu saß unterdessen der Schalk ordentlich im Nacken, unablässig rupfte das Pokémon die Brennnesseln aus, die abseits des Weges wucherten, und kitzelte damit Rabicet, das fiepend davonlief.
Trapp war bereits drauf und dran, sich bei Sophie für das Fehlverhalten seines Schützlings zu entschuldigen, doch die Tatsache, dass die Pokémon Mettel vor die Beine liefen und mehrfach fast zu Fall brachten, ließ die beiden schweigend genießen.
Kakteen und Teelichter wechselten sich ab. Die marmorne Fensterbank wirkte ziemlich überladen und was das sollte, wusste wohl keiner so genau, aber was noch im Haus war, wurde irgendwie verbaut. Flecken auf dem Stein zeugten von ausgelaufenem Allerlei.
Auch die Gardinen hatten Buße tun müssen: Mittlerweile waren die kitschigen Vorhänge halb zerstochen, halb angekokelt. Leere, ein diffus muffiges Aroma verströmende Glasflaschen hatten sich wie Bowling-Pins an der lichtabgewandten Zimmerwand aufgestellt. Etikettiert waren sie mit meist britisch klingenden Vor- und Nachnamen, bei genauerer Betrachtung war allerdings davon auszugehen, dass es sich keineswegs um personalisierte Cola-Flaschen einer englischen Großfamilie handelte.
Der Teppich wirkte, als sollte in Bälde an Ort und Stelle ein Werbespot für Textilwaschmittel gedreht werden. Der junge Mann, der in diesem Moment in ausgewaschenem T-Shirt und bunt bedruckten Bermudashorts träge durch den Türrahmen geschlurft kam, fügte sich nahtlos in der Szenerie ein. Er roch wenig anders als die Flaschenhälse, aber stärker. Beobachter mochten daraus einen Zusammenhang konstruieren, hätte es solche denn gegeben.
Auf dem einsamen Canapé erwartete ihn jedoch weder Männchen noch Weibchen, lediglich Hörnchen und ein paar Zeitschriften, die er aus Wartezimmern hatte mitgehen lassen. Die vermisste sowieso nie jemand, gab es dort schließlich im Überfluss, und wieso sollte man einen interessanten Artikel nicht zu Ende lesen, wenn man schon einmal dabei war?
Mit einem monotonen Scharren, das dem Gehörgang nicht gerade schmeichelte, wetzte das Hörnchen seine Krallen am Sofabezug und verpasste der Couch einen abgewrackten Used-Look. Von den Wänden schälte sich bereits die Tapete, aus jeder Zimmerecke schrie es „Bruchbude“, „Baracke“ und „Saustall“, doch Kopfhörer isolierten den spindeldürren Mann, der noch bei Herbstwetter in Shorts durch die Straßen Irfantons schlenderte und dessen ausgelatschtes Schuhwerk durch mehr als ein Loch den großen Zeh belüftete von allem, was die Außenwelt so hergab.
Im Vorbeigehen zündete er sich eine Zigarette aus der halbleeren Schachtel an einem der Teelichter an. Einmal durchpusten. Abstand. Schlaff ließ sich der Hagere aufs Canapé plumpsen. Die Geräusche eines dumpfen Aufpralls gaben der schlechten Federung eine Stimme. Durch die Sonnenbrille blickte er unbequem auf dem Rücken liegend an die Zimmerdecke. Der Lampenschirm der einzigen Lichtquelle baumelte wie ein leuchtendes Damoklesschwert über seinem Kopf und wartete auf das Ende seiner Halbwertszeit. Er neigte den Kopf zur Seite und kratzte sich am grauen Dreitagebart.
Schon eine Weile juckte es ihn ziemlich am Kinn, und er musste aufpassen, dass er sich nicht die Wunden der letzten verunglückten Rasur aufkratzte. So fühlte man sich eben, wenn man nicht in den Tag, sondern in die Nacht hinein lebte. Er fragte sich, ob Eulen oder Fledermäuse ebenfalls derart häufig das Bedürfnis verspürten, sich zu kratzen. Und, wie das dann aussähe. Wie ein belangloses Naturereignis, das zu würdigen sich niemand auch nur eine Sekunde Zeit nähme. Schnell einen Rauchring gepustet.
Zum Glück kein pingeliger Feuermelder an der Decke. Bloß Spinnennetze. Egal, es war nicht sein aus, und noch war er auch nichts Anderes als eine jener Launen der Natur, für die sich niemand Zeit nahm. Nicht einmal er selbst. Er nahm sich Zeit für Fernsehen und Zigaretten und Alkohol. Dafür nahm er sich auch Geld, das stellte er dann ein wenig anders an, aber er schaffte es.
Die letzten Tage allerdings wirkten als geradezu außerirdisches Echo in ihm nach. Es hatte sich endlich etwas verändert. Und auch, wenn sich die Wirkung von all dem für den Moment noch nicht zeigen wollte, zwischen ihm und dem Schlüssel zu jener lang erträumten Wende in seinem als Schicksal entschuldigten Lebenslauf lag nicht mehr als das zerknautschte Polster eines hervorhebenswert hässlichen Sitzmöbels.
Leise polterte ein Teelicht zu Boden und erlosch. Das Eichhörnchen randalierte.
„Schmeiß mal weniger Pyro, du Hooligan“, schnarrte die Stimme des windigen Gesellen seinem Pokemon entgegen, welches mit zusammengekniffenen Augen einen kritischen Blick zurück warf. Der Mann richtete sich auf und starrte an die altmodische Wanduhr, die ein wenig aussah wie ein verunglückter Eiffelturm aus Holz, aber immerhin über ein intaktes Uhrwerk samt Ziffernblatt verfügte.
Eigentlich war die SMS langsam überfällig. Wir zur Bestätigung erklang der Signalton. Und verriet eine Planänderung, die er so nicht erwartet hatte.
Fortsetzung folgt
Credits: Folgende Sprites fanden den Weg in diese Geschichte:
Löwenfisch, Schamane, Süßigkeitenmonstrum - BlakMetl (Kapitel 1)
BuKnu - ShinyBlue (Kapitel 1)
Projekt 351 - Various Artists (Kapitel 1)
Takobold - Takua (Kapitel 2)
Rabicet - EVoLiNa X (Kapitel 2)
Vetari - Rumo (Kapitel 2)
Himmelblaues Wollknäuel - U-Seigel (Kapitel 3)
Aquafuchs (nennen wir ihn "Foxi") - violedra (Kapitel 3)
Ein sehr hässlicher Hund - ShinyBlue (Kapitel 4)
Ich danke allen Spritern für die Inspiration in dieser Geschichte. Falls das Auftauchen eines eurer Sprites nicht erwünscht wird (ich hab mir einfach mal das Recht genommen sie zu benutzen), so sagt mir das bitte. Ich werde diesen Teil dann ändern.
Eine Kleinigkeit noch: Ich bitte euch, die Menschen dieser Geschichte, die Besitzer der Pokemon (also eure Sprites) nicht mit euch zu vergleichen. So soll sich bitte keiner persönlich angegriffen fühlen, wenn ich etwas über die Entstehung der Pokemon sage ;D
(c) by NF
Ich hatte nie die Entscheidung, ob ich diese FF hier schreibe oder nicht, NF hat mich nämlich dazu gezwungenen, und hier ist sie, meine FF zum Thema Spriter's Paradise, sie trägt den Titel Blaupausen, da Blaupausen eine tragende Rolle in der Geschichte spielen, da Blau in seinen Pausen gerne mal hier weiterschreibt und nicht zuletzt deswegen, weil ihr euch für die blauschen Geschichten mal eine Pause nehmen solltet.
Ähnlich wie in Friends Variante wird der Stoff unserer FanArt-Galerie hier drin verwoben, fügt sich zu einem langen Teppich, und auf dem dürft ihr dann eure dreckigen Schuhe... Lassen wir das und ihr mir einen Kommentar hier, hier we go:
0. Prolog - Ein finsterer Ort
1. Kapitel 1 - Ein Bruch? Einbruch!
2. Kapitel 2 - Stille Nacht, heilige Nacht
3. Kapitel 3 - Nudeln
4. Kapitel 4 - Herbstfall
5. Kapitel 5 - Drehtüreinheiten
6. Kapitel 6 - Störsignale
7. Kapitel 7 - Schaberoadtrip
8. (Platzhalter)
9. (Platzhalter)
...
Prolog: Ein finsterer Ort
Freitag. Wäre an diesem Abend ein neugieriger Passant in die Nähe des imposanten Anwesens gekommen, er hätte sich in die Kulisse eines alten Horrorfilms zurückversetzt gefühlt.
Ob das altehrwürdige Gebäude eine große Villa oder ein kleines Schlösschen war, wusste niemand im kleinen Örtchen Irfanton so genau, und es interessierte auch niemanden. Man machte einen Bogen um das Anwesen und um die Straße ohne Namen.
Das Straßenschild war derartig verwittert und von Moosen und Flechten überzogen, dass man den Straßennamen schon seit längerer Zeit nicht mehr entziffern konnte, und erinnerte sich kein Bewohner Irfantons mehr, wie die Straße am Stadtrand ursprünglich geheißen hatte.
Lediglich der Besitzer des einzigen bewohnten Gebäudes, der junge Sir Mettel, der durch eine Erbschaft in Besitz des Gruselschlösschens gelangt war, kannte den Namen der Straße.
Wenn ihn jemand danach fragte, wich er jedoch stets aus und lenkte das Gespräch in eine andere Richtung.
Der Legende zufolge war der Straßenname eine uralte Verwünschung aus einer fremden Sprache, und das war nur eine von unzähligen Sagen, die sich um das alte Anwesen und seine Umgebung rankten. Es war die Art von Geschichten, die sich jugendliche Camper gegen Mitternacht am Lagerfeuer erzählten, um den Zuhörern schlaflose Nächte zu bereiten.
Diese Nacht, eine gewöhnliche Herbstnacht, schien der Vollmond durch dichte, dunkle Wolken herab auf das Schlösschen von Irfanton.
In einem Fenster brannte Licht, Sir Mettel beschäftigte sich am späten Abend also noch mit den neusten Exponaten seiner umfassenden Kunstsammlung über fremdartige Pokemon. Vielleicht las er auch noch ein Buch, in der Stadtbücherei hatte er sich neulich den Romanband „Losing Memory“ von S. Blue ausgeliehen, und die Bibliothekare schlossen schon Wetten ab, um viele Wochen Sir Mettel diesmal mit der Rückgabe im Verzug sein würde.
Mettel war ein vielbeschäftigter junger Mann und Bibliothekare hatten einen langweiligen Job, den sie sich mit derartigen Spielchen erträglicher gestalten wollten.
Die umliegenden Häuser waren viel kleiner und alt und windschief, sie standen schon seit Jahrzehnten leer und nicht wenige vermuteten, dass sie niemals einen Bewohner gehabt haben könnten.
Manchmal spielten hier Kinder verstecken, die sich zu weit von zuhause weg gewagt hatten und die Nischen und Unterschlüpfe der unbewohnten Grundstücke für ihr Spiel benutzten, dass durch den Aspekt, dass sie etwas Verbotenes taten, noch an Reiz gewann.
Auch um diese Häuser rankten sich Mythen und Legenden, wenn auch bei weitem nicht so viele wie um das gigantische Anwesen auf der anderen Seite der gepflasterten Straße.
Neben dem Schlösschen beherbergte das Grundstück auch noch einen verwilderten Schlossgarten, in dem das Gras kniehoch wuchs und Farne, Büsche, Sträucher und Bäume ein Fortkommen abseits der durch Marmorplatten gekennzeichneten Wege unmöglich machten.
Sir Mettel hätte die Möglichkeit, dies zu ändern, betonte er selbst immer wieder, aber „man sollte die Natur doch wenigstens einmal gewähren lassen, schließlich lässt sie uns Menschen auch gewähren“.
Den philosophischen Ansatz dahinter verstanden die Wenigsten.
Doch auch an den Anblick des Gartens gewöhnte man sich, genau wie an den Anblick des Schlösschens, der umstehenden Häuser, des verrotteten Straßenschildes und der funzeligen Laternen, die die Straße nur auf der Seite des Schlösschens säumten.
Und doch wäre einem zufälligen Beobachter der Szenerie an diesem Abend der kalte Angstschweiß auf die Stirn getreten.
Denn auch durch den dichten Regen, der in prallen Tropfen schnell und peitschend auf den steinigen Boden der Straße niederprasselte, sah man deutlich die dunkle Gestalt, die an Schwärze die Nacht noch übertraf – und die nun durch das geschlossene, eiserne Tor hindurchglitt...
Kapitel 1: Ein Bruch? Einbruch!
Sir Mettel war ein junger Mann, fast zu jung, um ein derartig großes Anwesen zu verwalten.
Da er auch ein sehr reicher Mann war, konnte er es sich allerdings leisten, für die eine oder andere Arbeit im Haus einen Gehilfen zu beschäftigen, meistens ein Pokemon einer besonders seltenen Gattung.
So konnte er ungestört seinen Hobbies nachgehen, die für einen einfachen Bürger sicherlich wenig reizvoll waren, die Mettel aber seit jeher fasziniert hatten. Eine Passion des Schlossherren war die Aquaristik. In seinem überdimensional großen Wandaquarium tummelten sich die verschiedensten Unterwasser-Pokemonarten, und es kamen immer wieder neue dazu.
Das Wasser war klar, die Fische hatten genug Platz und genau so viele Wasserpflanzen, wie nötig waren. Zwei Scheinwerfer versorgten das Aquarium mit hellem, weißem Licht und der Filter am Rande des Beckens surrte leise.
Er öffnete eine in die Wand eingelassene Klappe und ließ ein paar Futtertabletten hineinfallen. Kurz nach dem diese die Wasseroberfläche durchbrachen, stürzten sich zwei seiner Löwenfische darauf und knabberten daran herum, während andere Fischsorten die heruntersinkenden Krümel vertilgten.
Daneben widmete sich Sir Mettel der Kunst.
Er war ein Sammler und Zeichner zugleich, wurde auf dem internationalen Kunstmarkt hoch gehandelt, wenngleich seine Werke meist in seinem eigenen Besitz blieben.
Aktuell arbeitete er an einer Sammlung von Porträts antiker Pokemon, wie man sie noch nie in der Realität des Spriter's Paradise gesehen hat. 351 verstaubte Gemälde im Format 56 mal 56 Zentimeter hatte er sicherstellen können, teure Sammlerstücke von Künstlern wie Sam Lash oder Steven Niebel, die er von Chamane, seinem treuen Weggefährten und Pokemon, restaurieren ließ. Die Härtefälle, für die es in jedem Fall zu spät war, zeichnete er selbst nach, im originalgetreuen Zeichenstil, Acryl auf Leinwand, nur 4 Farben, davon eine Schwarz, eine Weiß und 2 von einer speziellen Palette. Trotz dieser Farbarmut erreichte er eine unwahrscheinliche Plastizität.
Es war nicht der erste verregnete Abend, an dem er bis spät in die Nacht hinein wach blieb, um seine Fische zu beobachten, ein gutes Buch zu lesen oder auf ein restauriertes Gemälde für sein Projekt 351 zu warten. Das Aquarienzimmer war vergleichsweise schlicht eingerichtet, trotz seines Vermögens machte sich Sir Mettel wenig aus Prahlereien.
Die leichten, blauen Vorhänge vor der verglasten Fensterfront, die zur Straße zeigte, passten vielleicht in eine Schule oder eine Arztpraxis, entsprachen jedoch keinesfalls dem Klischee der uralten Stofffetzen, die normalerweise in solchen altehrwürdigen Gemäuern hingen.
Sein Schreibtisch war aus hellem Holz, Stifte, Papier und einige Bücher und Zeitschriften verteilten sich auf der Arbeitsfläche, Skizzen drängten sich in den überfüllten Schubladen. Die Schreibtischlampe war ausgeschaltet, ein Kronleuchter, eines der wenigen Relikte aus den Anfangszeiten des Schlösschens, spendete Licht.
23:42 Uhr, sagte die Wanduhr.
Mettel ahnte in diesem Moment noch nicht, dass dieser Zeitpunkt sich wenig später in einem Protokoll der örtlichen Kriminalpolizei finden sollte.
Es klopfte an der Tür, deren hölzerne Oberfläche übermäßig verschnörkelt und verziert war, neben dem mit Blattgold überzogenen Knauf war ein kleiner Löwe eingraviert, das Familienwappen der Mettels.
„Herein.“
Sir Mettels Stimme war etwas heiser, er hatte sich Tags zuvor eine leichte Erkältung eingefangen, wohl durch die feucht-kühle Witterung der letzten Wochen bedingt.
Es trat ein seltsames Wesen ein, mannshoch mit fast menschlicher Statur, aber einem majestätischen, weißgefiederten Vogelkopf.
Die Gestalt war in eine weinrote Robe gehüllt.
„Chamane“, begrüßte der Kunstsammler sein Pokemon.
„Was führt dich so spät noch zu mir?“
Das Mischwesen holte aus den Tiefen seiner Umhangtaschen einen seltsam verzerrten, goldenen Stab hervor und schwenkte ihn durch die Luft. Diese seltsame Zeremonie war eine Art telepathische Séance und erlaubte es dem Pokemon, einer beliebigen Person direkt seine Gedanken mitzuteilen.
Schockierende, verstörende Gedanken.
Gedanken, die Sir Mettels Gesichtsfarbe schlagartig in ein ungesundes Blassgrün änderten.
„Das ist ja...“
Mehr brachte er nicht heraus.
Sofort sprang er auf und verließ rennend das Zimmer.
Noch im Laufen tippte er die Nummer der örtlichen Polizeidienststelle.
Samstag. 1:27 Uhr. Es war nur ein kleines Team angerückt, es handelte sich schließlich nur um einfachen Diebstahl und nicht um Mord, Totschlag oder das Herbstfest der Volksmusik, wie Kommissaranwärter Jan Trapp es formulierte.
Er war der Unglückliche, den man nachts um eins aus dem Bett bimmelte, weil die zuständigen wenigen Kommissare entweder „auf Urlaub“ waren, grade aus unerfindlichen Gründen etwas anderes zu tun hatten oder „nicht konnten“, ein Totschlagargument wie kein Zweites.
Jan war also aufgestanden, hatte sich die erstbesten Klamotten aus dem Schrank übergezogen, hatte sich den Pokeball mit seinem Begleiterpokemon Buknu in die Tasche gesteckt, hatte sich sein altes Klapprad aus dem Geräteschuppen geholt und war durch den strömenden Regen eine Viertelstunde bis zum Tatort gefahren, wo ein Kollege und eine Kollegin von der Streife bereits warteten.
„Grüezi, allwithanother“, versuchte Jan mit einem seiner zahlreichen halblustigen Späße die gedrückte Stimmung etwas aufzuheitern, was ihm auf ganzer Linie misslang.
„Und, wo steckt der böse Bube?“
Ein dicklicher, mittelgroßer Mann mit hellem Oberlippenbart, der in diesem Viertel nachts den Streifenwagen fuhr, las den bisherigen Stand der Ermittlungen aus dem Protokoll vor.
„Gegen halb zwölf am gestrigen... Wat war nochmal jestern jewesen?“
„Freitag, Uwe“, seufzte seine bemitleidenswerte Begleitung, eine junge Frau, die von der KTU zur Streife versetzt worden war, weil zur Zeit so viele Polizisten Urlaub hatten, zu tun hatten oder nicht konnten, was ihrer Meinung nach sowieso das Totschlagargument schlechthin war.
Uwe fuhr fort:
„Ja, also, dann, nech? Auf jeden Fall hat der Mr. Mettel hier im Erdgeschoss ein Atelier, so Kunst und so, und Leute bezahlen für den Kram ne Menge Kohle – und er hatte da wohl so ein paar nie veröffentlichte Sachen, und die wurden jetzt gestohlen und so und alles verwüstet, und jetzt wills keiner gewesen sein. Keine Personenschäden.“
„Also ein stinknormaler Bruch? Dafür wird man mitten in der Nacht bei 'nem derartigen Scheißwetter geweckt? Wo bleibt da die Menschlichkeit?“
Mettel, der die ganze Zeit schweigend neben den drei Beamten gestanden hatte, trat nun aus dem Schatten der Nacht hinein in den fahlen Lichtkegel der Straßenlaterne.
„Es gibt etwas, das sie vielleicht wissen sollten“, flüsterte er bedeutungsschwer. „Diese Skizzen verstehen nicht alle Leute. Aber die, die sie mir gestohlen haben, verstehen sie gut genug, um mehr zu zerstören, als sie sich vorstellen können.“
Kapitel 2: Stille Nacht, heilige Nacht
Samstag, 8:44 Uhr.
Die vergangenen Stunden waren eine Tortur, die Kommissaranwärter Jan Trapp so bisher noch nicht erlebt hatte und inständig hoffte, dass er Ähnliches nie wieder erleben müsste.
Nachdem die Spurensicherung mit einiger Verspätung angerückt war, hatte auch er den Tatort besichtigen dürfen, und natürlich hatte Sir Mettel, der alte Prahlhans, der zwar auch nicht viel älter war als Jan, aber um Einiges reicher, es sich nicht nehmen lassen, nebenbei die ansehnlichsten Flecken seines Prunkschlösschens vorzuführen.
Für jemanden, der zur Zeit in einer Schrebergartenlaube wohnte und froh war, wenn es mittags etwas anderes gab als Nudeln, ein ganz schöner Kulturschock. Er beschloss noch vor 3 Uhr morgens, sich zur nächsten Mahlzeit wenigstens Ketchup und Parmesankäse zu gönnen.
Und vielleicht mal irgendwas mit Pilzen.
Wobei, er hasste Pilze.
Er hasste auch Parmesankäse.
Und ob das den Lebensstandard derart heben konnte, um einen Mann, der im Wohnzimmer einen silbernen Springbrunnen stehen hatte, nicht mehr zu beneiden, wagte er auch zu bezweifeln.
Scheißjob, Scheißlohn.
Das Atelier befand sich im Westflügel.
Das war die dem Haus abgewandte Seite des Schlosses.
Ein Fenster war eingeschlagen, die Vorhänge (ähnliche wie in Mettels Aquarienzimmer) von der Gardinenstange gerissen, Leinwände umgekippt, Farbe überall verteilt, Gemälde durchtreten und Pinsel in die Wände gerammt.
Gerade Letzteres erweckte den Eindruck, als ob dort drinnen ein Tornado getobt hätte, Jan Trapps Bemerkung, es hätte genau so gut ein Taifun gewesen sein können und man müsse das prüfen lassen, wurde überhört.
Doch das Beunruhigendste war nicht das, was da war, sondern etwas, das fehlte.
Die Wand des Raumes war fliederfarben gestrichen. Einige Farbspritzer trübten dieses Bild nun.
Vor allem jedoch fielen die rechteckigen, dunklen Flecken auf, drei an der Zahl, die in einem gleichschenkligen Dreieck angeordnet die Zimmerwand verschandelten.
„Das ist... Ich weiß, was das ist, glaube ich. Und es ist wichtig, und, wissen Sie, Sie müssen mir glauben! Ich mach das jetzt nicht aus Spaß oder weil ich irgendwie paranoid bin oder Dings...“
Mettel war durcheinander.
Das merkte nicht nur Trapp, sondern auch die Leute von der SpuSi, von denen Einige noch am fotografieren der Beweisstücke waren, die sie feinsäuberlich von eins bis dreizehn durchnummeriert hatten.
Trapp wusste, dass sie überhaupt nur 13 Schilder hatten, wieso das so war, wusste er allerdings nicht. Aber eins wusste er, er war entschieden zu müde, um noch große Sprünge zu machen.
„Sir Mettel, ruhen sie sich ein bisschen aus, ich erwarte sie heute früh um 9 auf dem Revier, dort wird man Sie vernehmen. Schlafen Sie ne Runde. Machen Sie sich nen Kaffee, essen Sie Spekulatius und hören Sie ein bisschen Jazz, von mir aus machen Sie auch Yoga oder irgend einen anderen wirbelsäulenfeindlichen Kram aus Asien, aber ordnen Sie bitteschön Ihre Gedanken. Danke, zu liebenswürdig.“
Mettel bemerkte den bissig-ironischen Unerton in Trapps Stimme, verkniff sich aber aus Höflichkeit eine entsprechende Gegenbemerkung.
Buknu, welches Trapp aus seinem Pokeball gelassen hatte, kämpfte gegen die aufkommende Müdigkeit, indem es die Schilder der Spurensicherung mit der Nase umstupste und den Kriminalbeamten dabei zusah, wie sie sie wieder aufstellten.
„Komm zurück, du dummes Ding...“
Und zurück in den Pokeball mit Buknu.
Trapp hatte wirklich keinen Nerv mehr, er ließ Streifenpolizist Uwe die restlichen Formalitäten erledigen und suchte sich so schnell wie möglich einen Weg aus dem gigantischen Bau hinaus an die frische, regenfeuchte Nachtluft, um die wenigen Stunden der Nacht, die ihm noch übrig geblieben waren, wenigstens in seinem bescheidenen, warmen, trockenen Heim schlafend im Bett verbringen zu können.
Er suchte nach seinem rostigen Klapprad.
Er hatte es an den Zaun gekettet, da war er sich sicher.
Das Schloss allerdings war aufgebrochen, oder besser gesagt: Von spitzen Reißzähnen aufgebissen.
Klar. In diesem Stadtteil lebten die bescheuertsten Pokemon.
Mit was für einem Exemplar er es zu tun hatte, wurde ihm auch schnell klar, denn nicht weit vor ihm radelte ein koboldartiges, rotes Wesen mit einem plüschigen silbergrauen Latz und grinste ihn gewitzt und verschlagen an.
Ein Takobold. Er hasste diese Biester, sie waren auf seiner Sympathierangliste irgendwo zwischen Pilzen und Parmesankäse anzusiedeln.
Gut, hatte er kein Rad.
Und stand um 3 Uhr morgens irgendwo im Nirgendwo im Dauerregen bei gefühlten minus zwanzig Grad.
Traumjob.
Ein Xenonscheinwerfer irgendeines Autos blendete ihn, Trapp schirmte sein Gesicht mit beiden Händen ab und erkannte, dass es der Streifenwagen von Uwe und seiner jungen Kollegin war.
Wobei Uwe hier subtrahiert werden musste, er saß nicht mehr mit drin, warum auch immer.
Die junge Polizistin sah er jetzt das erste Mal wirklich im Licht, sie hatte lange, glatte, kastanienbraune Haare und ein sympathisches Gesicht, aus dem er ablesen konnte, dass das Mädchen in der Jugend ziemlich viel heile Welt gesehen haben musste.
Warts ab, Kleine, der Job wird dich noch früh genug schocken. Sie hupte und hielt.
Trapp stieg ein und machte es sich auf der gepolsterten Rückbank bequem.
„Was macht eine so junge Frau wie Sie nachts alleine in dieser Gegend? Hoffentlich sind für den Notfall ein paar Polizisten in der Nähe.“
Im Rückspiegel konnte Trapp die junge Beamtin kurz lächeln sehen.
Eine der wenigen Personen auf seiner Strichliste, die gegen seinen kosmischen Humor nicht allergisch reagierten.
„Sehr witzig, Herr Komissar.“
Trapp erkannte, dass sie sich bemühte, möglichst abweisend und sachlich zu klingen.
„Und, wie ist der Stand der Ermittlungen?“
„Ich bin müde, mein Fahrrad ist weg, der Wetterbericht war völlig daneben. Die Kachelmons sind sonst eigentlich zuverlässiger. Aber jetzt hab ich ja immerhin ein Taxi.“
„Leider nein. Ich kann Sie höchstens zum Revier bringen, muss noch Streife fahren und kann jetzt nicht Ihr Taxi spielen.“
„Wissen sie was, ich hasse es, Leute zu siezen, die das so offensichtlich beschissen finden wie ich selbst. Also, geben Sie ihren Namen besser zu Protokoll, bevor ich Ihren Fingerabdruck in der Kartei nachschlagen muss.“
Der Wagen setzte sich ruckelnd in Bewegung, Trapp konnte nicht sehen, ob sie ihm seinen Sarkasmus übel nahm.
Immerhin, sie antwortete.
„Sophie Lese. Lese wie der Esel, nur rückwärts. Und selbst?“
Der Kommissaranwärter räusperte sich, legte eine bedeutungsschwere Pause ein und imitierte den Tonfall seiner Kollegin.
„Jan Trapp. Trapp wie der Adler, nur ohne Adler, dafür mit Trapp. Wieso sagt mir Ihr Name nichts? Die normalen Streifenpolizisten kenn ich eigentlich alle.“
„Jetzt siezt du schon wieder.“
„Ach, egal jetzt.“
„Also erstmal bin ich noch nicht so lange dabei, zweitens arbeite ich normalerweise in der KTU.“
„Und was verschafft mir dann die Ehre?“
„Personalmangel, die konnten heute alle nicht.“
„Ist ja wohl das Totschlagargument schlechthin!“
„Ja, wirklich.“
Eine Phase des Schweigens folgte.
Trapp inspizierte das Innere des Streifenwagens aufs Genauste.
Sah auch nicht anders aus als sonst.
Roch nach neuem Auto, war aber nicht neu.
Ein Duft-Tannenbaum, der von der Decke baumelte, sorgte für den Geruch nach unbenutztem Leder und fabrikneuer Karosse. Damit wurde bei Kleinkriminellen immerhin der Eindruck erweckt, die Polizei könne sich neue Autos leisten und wäre sowieso viel besser und mächtiger als irgendwelche Möchtegernmafiosi, die meinen, sich über das Gesetz stellen zu können.
Im Fußraum lag eine Tüte, irgendeine Dose lag noch drinnen. Der Polizeifunk surrte. Auf dem Beifahrerplatz schlief ein Pokemon, irgendetwas zwischen Hase und Haarball.
Das Fell des Wesens war weiß, kurz und dicht, eine hellblaue Halskrause und lange, blaue Fellsträhnen, die das Gesicht umrahmten, brachten etwas Farbe ins Spiel.
Auffällig waren die großen Ohren.
Trapp hatte so ein Pokemon schonmal gesehen, in einer Zeitschrift im Wartezimmer seines Arztes.
Er war dort wegen einer Magenverstimmung gewesen, eine Pilzsuppe war ihm nicht bekommen...
Er hasste Pilze.
Plötzlich legte der Wagen eine Vollbremsung hin, das Pokemon schreckte aus seinem Schlaf hoch und auch Trapp war ein wenig wacher, als ihm lieb sein konnte. Ein gelber Rüssel grinste ihn dümmlich durch die Windschutzscheibe an.
Ein Pflanzensprössling wuchs auf dem massigen Kopf des Pokemon, das die Straße blockierte. Der blätterartige Schwanz wedelte. Durch die Scheibe hörte man das Viech grunzen.
Er blickte auf ein Schild am Straßenrand, welches im Licht der Autoscheinwerfer reflektierte. „Vetaris kreuzen die Fahrbahn“.
Na klasse.
Es reichte ihm jetzt, Jan Trapp kapitulierte. Er dachte noch an einige wirren Dinge, bevor er auf der Rückbank des Streifenwagens einschlief.
Wo dieser Uwe überhaupt war.
Was Karl Lagerfeld in Sachen Fortpflanzung machte, wenn Designerbabys doch trotz voranschreitender Genforschung verboten waren.
Wie man Pilze zubereitete, ohne, dass sie am Ende derart bescheiden schmeckten, dass er im Wartezimmer Zeitungen lesen musste.
Scheißjob.
Samstag, 8:44 Uhr.
Jan Trapp wachte auf der maroden Rückbank eines miefenden Streifenwagens alleine auf.
Es regnete nicht mehr.
Kapitel 3: Nudeln
Jan Trapps Armbanduhr gab ein schrill piepsendes Geräusch von sich.
Viertel nach Neun.
Trapp wusste nicht, wie man den Alarm ausschaltete. Einstellen war ganz leicht gewesen, der Rest der Bedienungsanleitung war ihm dann zu kryptisch gewesen.
Er hatte das japanische Original des Handbuchs durch den Google Übersetzer gedreht, dabei raus kam etwas, das mehr an ein Bekennerschreiben eines nahöstlichen Terror-Syndikats erinnerte als an eine Methode, das nervtötende Geräusch abzustellen.
Eine halbe Minute, dann hörte es von alleine auf.
Sir Mettel trat durch die Glastür und setzte sich Trapp gegenüber.
Der Raum war sehr karg eingerichtet, wie es nun einmal der Stil solcher Kleinstbüros war.
Die Zimmerwände waren grau oder gläsern, wahrscheinlich mit Hartplastik ausgekleidet oder sowas, Jan Trapp war schließlich kein Architekt, er musste das nicht wissen.
Er musste wissen, wer der Mörder war. In einem Mordfall jedenfalls, aber die Mordkommission war überbesetzt. Wobei er sich vorstellen konnte, dass viele dort grade Urlaub hatten oder nicht konnten, weil sie sich eine mittelschwere Pilzvergiftung zugezogen hatten.
Auf dem ebenso schlichten wie farblosen Schreibtisch herrschte erschreckende Leere, die sonst obligatorische Zettelflut war per Aktenordner und Aktenordnerschrank aus den Augen und fürs Erste auch aus dem Sinn.
Lediglich ein leerer Schreibblock, eine Kaffeetasse mit drei Bleistiften, vier funktionstüchtigen Kugelschreibern, drei defekten Kugelschreibern und einem weichen, alten Salzbrezel und ein seit zehn Jahren veraltetes Schnurtelefon verzierten den leeren Tisch in diesem trostlosen Zimmer.
Auch eine Plastikblume, die sich in blassen Pastelltönen auf der Fensterbank langweilte, wirkte mehr deplatziert als stilvoll. Jan Trapp fragte sich, was sich so ein neureicher Schnösel wie Mettel dachte, wenn er es sich in so einem Raum bequem machen sollte. Das Wartezimmer eines beliebigen Hausarztes strahlte mehr Lebensfreude aus.
Außerdem waren die Zeitschriften dort interessant, Jan Trapp fragte sich manchmal, ob irgendwer extra Zeitschriften für Wartezimmer herstellte.
Und wie das Pokemon hieß, das auf Sophie Leses Beifahrersitz geschlafen hatte.
Rabicet?
Wobei, das konnte genau so gut ein Medikament sein.
Von ratiopharm.
Gute Preise.
Gute Besserung.
„Also, darf ich jetzt meine Aussage machen!?“
Mettel wirkte gehetzt. Der junge Adlige hatte dichtes, schwarzes Haar, das sich an den Seiten kräuselte.
Sein Gesicht war schmal, sein Körperbau auch nicht wirklich stämmig, er wirkte weder wie ein Hänfling noch wie ein Milchgesicht, eher wie ein junger Künstler.
Er war ja schließlich auch einer.
„Nein, wir haben hier feste Zeiten. Aussagen nur Mittwochs von vierzehn bis sechzehn Uhr, und auch dann nur in Begleitung einer autorisierten... Nein, mal ernsthaft. Dafür sind sie hier und deswegen sollten sie das machen, oder?“
„Öhm, ja, okay. Wollen Sie mitschreiben?“
„Muss nicht sein, hab ein Tonband laufen. Schießen Sie los.“
„Ja, also. Ich war den ganzen Abend über in meinem Aquaristik-Zimmer, wissen Sie, Fische und so.“
Jetzt erst bemerkte Trapp das kleine Wesen, das Mettel mitgebracht hatte und das es sich auf dem Schoß des Bestohlenen gemütlich gemacht hatte.
Es sah aus wie eine Katze oder ein kleiner Hund, allerdings war es blau und geschuppt, das kam bei Hunden wie Katzen dann doch tendenziell selten bis nie vor.
Über flossenartige Auswüchse an Kopf und Armen konnte getrost das selbe behauptet werden. Abgerundet wurde das seltsame Erscheinungsbild durch zwei Schlangenköpfe.
Zumindest sahen sie so aus.
Sie konnten allerdings auch ein harmloser Schweif sein.
Vielleicht.
Mettel bemerkte den neugierigen Blick des angehenden Kriminalkommissars.
„Ich soll mich um das arme Ding kümmern. Aquafüchse gibt es eigentlich nicht in dieser Region, der hier wurde offensichtlich ausgesetzt, vielleicht von irgendeinem Sammler. Die örtliche Poke-Pension hat mir aufgetragen, das kleine Ding wieder aufzupäppeln... Ich engagier mich da eben hin und wieder. Und unser kleiner Foxi hier hat noch einen Blubberhusten.“
Das Pokemon rülpste laut und ausgiebig, wobei ihm Seifenblasen aus den Nasenlöchern entwichen. Eine davon zerplatzte direkt vor Jan Trapps Auge, die Seifenflüßigkeit brannte wie Feuer. Trapp sagte nichts, kniff das Auge nur zu, weil ein Jan Trapp keinen Schmerz zugibt, wenn er einen blutjungen Großgrundbesitzer gegenüber hat.
Ein Jan Trapp würde auch dann keinen Schmerz zugeben, wenn er einen zweiundfünfzigjährigen Metzgermeister vor sich hätte, wenn er es sich recht überlegte.
Er hatte kein Image als harter Hund, nun wirklich nicht.
Eigentlich hatte Trapp überhaupt kein Image.
Und auch keinen Hund.
Vor einem Hund würde Jan Trapp Schmerzen vielleicht zugeben. Auch vor einem harten.
Mit geschlossenem linken Auge fuhr der Kommissaranwärter fort.
„Also, ich nehme an, Fingerabdrücke wurden schon genommen?“
„Ja, hat mir ihr Kollege, der Herr Uwe, schon abgenommen. Habe ihn in meinem Gästezimmer übernachten lassen, der arme Mann hat seit Tagen nicht mehr geschlafen. Fallen hier viele Mitarbeiter aus?“
„Kann man so sagen.“
„Kein populärer Beruf, oder?“
„Was haben sie denn bitteschön gelernt, außer Geld zu erben?“
„Man muss nicht gleich persönlich werden.“
„Würden Sie fortfahren? Wie heißen Sie eigentlich mit vollem Namen?“
„Blake Ephraim Sirius Theodor Johann Mettel. Für Freunde Blake, wie der englische See, nur mit einem B davor. Sie dürfen mich Mettel nennen.“
„Okay, Mr. Mettel. Mein Name ist Trapp. Mehr brauchen sie nicht wissen. Ich muss mehr wissen. Beschreiben Sie doch mal den Ablauf des Tatabends aus Ihrer Sicht.“
„Wie gesagt, ich war im Aquarienzimmer. Die Wände sind dick, ich habe nichts gehört, und die Alarmanlagen haben allesamt nicht angeschlagen. Ich habe es erst mitbekommen, als Chamane – vielleicht haben sie ihn gesehen, ein großes, vogelähnliches Pokemon, ziemlich selten, und, um ehrlich zu sein, auch ziemlich wertvoll – mir also mitgeteilt hat, dass im Atelier ein Chaos herrscht. Und mir war klar, dass sich da jemand an den Planpokemon zu schaffen gemacht hat.“
„Oha, Planpokemon. Und jetzt kommt die große Verschwörungstheorie?“
„Nennen Sie es, wie sie wollen. Die Planpokemon sind Gemälde von sehr mächtigen Wesen aus grauer Vorzeit. Der Legende nach verstecken sich in der Malerei Hinweise. Hinweise darauf, wie man die Planpokemon wieder erwecken kann. Und wenn das Humbug ist, gibt es immerhin noch genug Leute, die siebenstellige Summen für diese drei Werke zahlen würde.“
„Mit Verlaub, diese Planpokemon-Geschichte erscheint mir doch ein wenig unglaubwürdig. Aber anscheinend ist es immerhin ein lukrativer Raub mit Sachbeschädigung. Ist doch auch etwas.“
„Ich gebe Ihnen nur den Rat, aufzupassen. Wer auch immer die Gemälde gestohlen hat, er ist gefährlich.“
Trapp öffnete eine Schublade an seinem Schreibtisch und holte eine kleine Schachtel mit der Aufschrift „FFD“ heraus.
Auf der Packung war ein seltsames Mischwesen aus Schokoladentafel und Zuckerwatte zu sehen, in der Schachtel fand sich das selbe Ding in Kleinstform.
„Auch einen?“ Trapp kaute auf dem Süßigkeitending herum.
Nervennahrung.
Er hatte noch kein Frühstück. Trapp hatte Hunger, wollte den Adligen möglichst schnell loswerden.
Wenn er sich beeilte, bekam er noch etwas Warmes in der Kantine.
Mettel schaute ihn nur komisch an. Wirkte irgendwie irritiert.
Ob es in den besseren Kreisen wohl auch sowas wie Karies gab?
„Dann nicht. Sie können auch gleich gehen. Ich brauche nur noch Ihre Anschrift. Mit Straßennamen, bitte!“
„Sie wissen doch, wo ich wohne.“
„Das nennt sich Bürokratie, also sein Sie mal nicht so.“
„Na gut. Wiesenstraße 3.“
„Die mysteriöse unbekannte Straße der tausend Legenden heißt Wiesenstraße?“
„Wieso denn nicht? Schauen Sie sich meinen Garten an. Wenn das keine Wiese ist, weiß ich auch nicht.“
„Na gut. Dann halten Sie sich bitte zu Verfügung. Wir werden uns melden. Schönen Tag noch.“
Mettel ging. Trapp auch, nämlich Essen.
Die Kantine sah nicht großartig anders aus als sein Büro, größer natürlich, von hellem, künstlichen Licht durchflutet, grau und fantasielos eingerichtet.
Viele Tische waren nicht belegt.
Viele Leute hatten Urlaub, einige konnten vielleicht nicht.
Die Schlange war nicht allzu lang.
Da der eigentliche Kantinenkoch nicht konnte, weshalb auch immer, war die Ersatztruppe im Einsatz.
Die bestand neben zwei Azubis aus Ben Bonhoff, einem ehemaligen Klassenkameraden Trapps.
Ihr Verhältnis war seit einem verhängnisvollen Klassenausflug vor fünfzehn Jahren gestört. Dass der eine den anderen manchmal bediente, machte keinen so richtig glücklich.
Bonhoff kam aus Schaberode, einem kleinen Dorf nordwestlich der Stadt, das noch zur Gemeinde Irfanton gehörte. Böse Zungen behaupteten, das Dorf sei nach seinem Zustand benannt, schäbig und marode.
Beweisen konnte das niemand, wiederlegen auch nicht, aber es galt als unanständig, die Dörfler deswegen aufzuziehen.
Fakt war allerdings: Es war eine ländliche Gegend, größtenteils von der Restzivilisation abgeschnitten und irgendwo zwischen Wald und Gebirge angesiedelt, mit Schleichweg zur Stadt.
Jeder kannte jeden, der Genpool war klein. Trapp kannte Bonhoff schon seit Kindertagen, damals, als Ben noch Benjamin hieß, maximal eins vierzig groß war, maximal acht Jahre alt war und einen IQ von maximal 75 vorzuweisen hatte.
Zumindest die ersten beiden Größen hatten sich signifikant verändert.
„Was gibt’s denn heute Leckeres?“
„Nudeln.“
Bonhoff hatte ein breites, teigiges Grinsen aufgesetzt.
„Haste noch Ketchup?“
„Nee.“
Trapp sah durch den offenen Spalt der Küchentür, dass mindestens zwei Flaschen Ketchup übrig waren. Scheißjob.
„Und Parmesankäse?“
Neben dem Nudeltopf stand eine volle, große Schale Käsekrümel.
Bonhoff grinste noch breiter, nahm die Schale und kippte sie in den Mülleimer.
„Nee, ist grad aus.“
„Ha! Ich mag gar keinen Parmesankäse!“
Bonhoff verzog das Gesicht und reichte Trapp eine Schüssel mit Nudeln. Trapp machte sich auf den Weg zu einem der unzähligen freien Plätze und pfiff ein Lied, das er gestern im Radio gehört hatte.
Könnte auch der Polizeifunk gewesen sein.
Buknu stritt sich derweil in der Poke-Fressecke mit einem himmelblauen Wollknäuel um einen Knursp – und zog den Kürzeren. Plötzlich packte eine Hand Trapp an der Schulter, der Kommissaranwärter wirbelte herum – in seinem Gedächtnis arbeitete es, das Kleinhirn meldete Zeichen von Erkennen.
Ihm dämmerte etwas.
„Wie der Esel, nur rückwärts, oder?“
„Exakt. Wie der Adler, nur ohne Adler, dafür mit Trapp, richtig?“
„Genau so isses.“
Sophie und Jan Trapp setzten sich an einen freien Tisch.
„Willst du deine Spaghetti tauschen? Ich mag keinen Ketchup, und du scheinst ja irgendwie Stress mit dem Chefkoch zu haben.“
„Na dann – willkommen zur ersten Nudelbörse in der Geschichte der Irfantoner Kriminalpolizei.“
Die Teller wechselten ihren Besitzer.
Kapitel 4: Herbstfall
Die Spaghetti schmeckten ein wenig nach Waschmittel und rochen ein wenig nach farbigem Klostein, aber da in der Not bekanntlich der Teufel Fliegen frisst, aß in der Mittagspause auch der Trapp Spülispaghetti.
Zähe, dampfende Würmer, matschig und durchgesuppt unter den blutroten Massen des extrem zuckerhaltigen Industrieketchups begraben, hergestellt aus glücklichen Freilandtomaten. Ekelhaft, aber essbar.
Da fehlte eindeutig der Parmesankäse.
Blöd nur, dass Jan Trapp Parmesankäse nicht ausstehen konnte.
Irgendwo hatte er mal gelesen, dass manche Pokemon sich hin und wieder ihre eigenen Gliedmaßen abkauten.
Das ging im Schnitt nur vier Mal. Hochgerechnet auf einen Mittelwert von drei Tagesmahlzeiten...
Es kam ihm wieder in den Sinn, dass dieses Verhalten nur dann zutage trat, wenn das Pokemon in eine massive Bärenfalle gehoppelt oder gestolpert war.
Nicht, um Geschmacksdefizite bei völlig zerkochten Nudeln auszugleichen.
Spaghetti al rente. Teigwaren für die dritten Zähne.
Lustlos im Mittagessen herumstochernd ordnete Jan Trapp seine Gedanken.
Wir haben einen Diebstahl. Wir haben keine Verdächtigen, vielleicht haben wir Spuren, so genau weiß man das noch nicht. Wir haben einen schnöseligen Großgrundbesitzer, der geradezu lächerlich wohlhabend ist.
Wir haben – ja, was haben wir eigentlich? Wir haben einen Aushilfskoch, der aktive Sterbehilfe per Nudelgericht leistet.
Scheiß – Kunstpause – job.
Das altmodische Quecksilberthermometer, angebracht an einem stahlgrauen Stützpfeiler mitten im Raum, zeigte irgendwas knapp über 10 Grad an. Draußen war es kalt und feucht, Herbst eben.
Schön war was Anderes.
Zu allem Überfluss hatte sich die Heizung vor wenigen Tagen verabschiedet, wahrscheinlich in den Urlaub.
Der Deckenventilator kurbelte indes weiter vor sich hin und teilte die stickige Luft gleichmäßig auf den Raum auf.
Draußen hatte die strukturlose Anhäufung mittelgroßer Kastanien, die dem tristen Bürogebäude der Irfantoner Kriminalpolizei so ein bisschen einen naturverbundenen Touch geben sollten, ihre Blätter schon in alle erdenklichen Schmuddeltönen verfärbt und begann nun unverschämterweise, die farbenreiche Biomasse durch bloßes Fallenlassen mit den witterungsbedingten Schlammpfützen zu verquirlen.
Nicht zu vergessen: Der letzte Ahorn, der als einziges Bäumchen aus der Reihe tanzte. Aus ungeklärten Gründen nie gefällt worden, und Holzfäller hatten um diese Jahreszeit grundsätzlich Urlaub oder zu tun.
Das Ergebnis des Laubwechsels war braun, roch modrig und natürlich war irgendjemand reingelatscht. Jeder Schritt war mit einem matschigen, saugenden Geräusch verbunden, als der hochgewachsene Mann sich dem Tisch des zukünftigen Kommissars Jan Trapp und seiner Kollegin näherte.
Trapp schaute kurz auf.
„Ah, Herr Misslich, sie sinds! Setzen Sie sich doch zu uns.“
Werner Misslich war nur knapp unter der 2-Meter-Marke geblieben. Er kam aus der Gegend und war in den knapp 50 Jahren seines Lebens nie irgendwo anders ansässig gewesen als im hiesigen Landkreis.
Seit knapp 3 Jahren nun war er so etwas wie Trapps Vorgesetzter, Jan Trapp schätzte, dass er damit gleichzeitig auch Sophies Vorgesetzter war, egal, in welcher Abteilung diese normalerweise tätig war.
Misslich galt als lockerer Chef.
„Bei dem konnte man auch schonmal einen Passanten erschießen und der Werner macht da Notwehr draus“ - so oder so ähnlich war es tatsächlich. Nicht, dass so etwas häufig vorkommen würde. In einer Kleinstadt wie Irfanton gab es nun auch nicht so viele Passanten.
„Jan Trapp, mein bester Mann!“
Kumpelhaft klopfte Misslich dem verdutzten Komissaranwärter auf die Schulter. Beim Riesen Misslich konnte so ein kleiner Klaps schonmal für den einen oder anderen Knorpelschaden sorgen, diesmal war der einzige sichtbare Effekt, dass Trapp ein paar Nudeln zurück auf den Teller spuckte und eine halbe Minute lang röchelnd nach Luft rang, während sein Chef ihn auf der Sitzbank näher an die Wand drückte, damit auch noch genug Platz für Misslichs Aktentasche war, die er natürlich nicht auf den Boden stellen wollte.
Denn die Fliesen des Speisesaals waren ja inzwischen von einer Familienportion Importmatsch frisch aus dem Umkreis der Quotenkastanien bedeckt.
Buknu gefiel das, das Pokemon hatte aufgegessen und machte sich nun schön dreckig, indem es sich mehrfach ausgiebig im Matsch rollte.
Trapp hatte sich wieder beruhigt.
„Bester Mann, wie komme ich denn dazu? Ich seh mich hier eher als bester Mann in spe, ich bin ja schließlich noch halber Azubi...“
„Paperlapapp. Sie, mein Freund, sind der beste Mann derer, die ich zur Zeit habe. Und wir haben aktuell Engpässe, müssen sie wissen. Viele Leute können nicht, manche haben keine Zeit und andere wiederum haben Urlaub – verständlich, bei dem Sauwetter.“
Misslich rutschte unruhig hin und her, wobei er sich die rechte Fußsohle an Jan Trapps Hose abstreifte.
Brauner Schlamm klebte an blauem Jeansstoff und tropfte langsam, aber stetig auf den Boden.
„Ähm, Herr Misslich...“
Sophie meldete sich zaghaft zu Wort.
„Ah, ja, Sophie! Du bist natürlich auch mein bester Mann. Oder so. Wie auch immer.“
Sophie Lese schickte einen kurzen Seitenblick in Richtung Trapp, der eine verwirrte Mischung aus „Seit-wann-duzt-der-mich“ und „Seit-wann-bin-ich-männlich“ darstellen sollte.
Jan Trapp lächelte gequält.
Chef war Chef. Widerspruch ist zwecklos.
Misslich hatte stets ein breites Gesicht aufgesetzt und war mehr der südländische Typ. Seine solariumerprobte Dauerbräune bildete einen klaren Kontrast zu Trapps blasser Gesichtsfarbe.
Der Komissaranwärter hielt nichts von Sonnenstudios und zollte ansonsten dem trüben Herbstwetter Tribut. Mit den kurzen, gelockten, grau-schwarzen Haaren, dem Dreitagebart und der dezenten Goldkette um den Hals sah Misslich mehr wie ein Zuhälter oder Mafiapate aus als wie ein hochrangiger Polizist.
Sophie fuhr nach kurzem Zögern fort:
„Es geht um diesen Fall mit den gestohlenen Kunstwerken, oder?“
„Kunstwerke? Pff. Kritzeleien.“
Trapps Zwischenruf war so überflüssig wie irrelevant. Misslich kümmerte sich nicht weiter drum und nahm einen kurzen Schluck aus seiner kleinen Pulle Halstenbek-Krupunder, die er alsbald wieder in einem kleinen Täschchen am Revers verschwinden ließ.
„Aah... Ja. Natürlich. Der Kunstraub. Herr Trapp, dieser Fall wird der erste in dieser Größenordnung sein, dessen Leitung sie übernehmen. Glückwunsch!“
„Und wie komm ich zu dieser Ehre? Hatten alle anderen Komissare Urlaub, oder was?“
„Nein... Ach was... Also, eigentlich schon, aber ein paar konnten grade nicht und der Lessing jagt immer noch seinen Mörder, sie wissen doch, der Fall mit dem Toten in der Dusche... Na, immerhin war das meiste Blut schon den Abfluss heruntergelaufen, nicht?“
Weder Jan Trapp noch Sophie Lese konnten Misslichs nostalgische Gefühle teilen.
Sophie nicht, weil sie nichts mit dem Fall zu tun hatte, und Trapp nicht, weil er sich nicht viel aus entstellten Leichen machte.
„Wie dem auch sei“, fuhr Misslich fort, die müden Augen geistesabwesend auf Trapps halbvollen Nudelteller gerichtet, „Sie übernehmen den Fall. Ich erwarte Ergebnisse, sobald ich aus dem Urlaub zurück bin. Das ist in... Hat hier wer 'ne Uhr?“
Sophie hatte.
Im Gegensatz zum nächtlichen Einsatz trug sie nicht die Uniform der Streife, sondern ein Outfit, dass Trapp so oder so ähnlich bestimmt schon einmal in einer Wartezimmerzeitschrift gesehen hatte.
Graue Strickjacke über lila Bluse. Im Modejargon konnte man das sicher so ausdrücken, dass es einen gewissen Klang hatte.
Trapp, für den sich Hosen und Pullover nur durch die Anzahl ihrer Löcher unterschieden, konnte das nicht.
Misslich schaute kurz auf die zierliche, hellblaue Armbanduhr an Sophies linkem Handgelenk. 11 Uhr 47.
Wieso gab es eigentlich um diese Uhrzeit schon Nudeln?
„...in 7 Tagen, 3 Stunden und exakt 17 Minuten. Wenn Sie irgendwelche Fragen haben – Sie haben ja meine Nummer.“
Trapp versuchte, seine Nudeln aufzuspießen, aber Misslich ließ ihm so wenig Platz, dass er mit dem rechten Ellenbogen ständig gegen die Betonwand stieß.
„Haben Sie keinen Hunger, Trapp? Ich könnts verstehen – mal unter uns, dieser Bonhoff ist schon 'ne Pfeife“, gluckste Misslich.
„Ähm, ja. Genau. Dann mach ich das mit dem Fall. Gut. Und wo geht’s denn hin, im Urlaub?“
„Costa Deslucida. Im Süden. Schauen Sie...“
Er kramte ein Foto hervor, auf dem ein Misslich mit Schmerbauch, eine deutlich jüngere Frau, ein kleines Kind und ein ziemlich hässlicher Hund vor einem überfüllten Strandpanorama in den Selbstauslöser grinsten.
„Hübsches Tier“, meinte Trapp sarkastisch. Misslich amüsierte sich prächtig.
„Geben sies zu, sie finden den potthässlich. Haben wir aus dem Tierheim, meine Frau hatte Mitleid oder so... Er heißt Sarrazin.“
„Sarrazin?“
„Ist hässlich und mag keine Fremden.“
„Ach so.“
„Also dann – mein Flug geht bald.“
Auf einmal herrschte kurzzeitig so etwas wie dienstliche Diskretion.
„Ach ja, Frau Lese – sie hatten angefragt, von der Streife zurückversetzt zu werden, richtig?“
„Ja, stimmt.“
„Dann machen sie unserem Aushilfskomissar hier für die nächste Woche mal die Assistenz, hmm?“
Kurzer Seitenblick auf Trapp. Kurzes Nicken von Trapp Richtung Sophie.
„Ja. Natürlich. Gut, dann schönen Urlaub, Herr Misslich!“
Der Chef gab beiden noch mal die Hand.
War das nun eher ein feuchter oder ein fester Händedruck? Wie auch immer.
Trapp stellte den Spaghettirest auf den Fußboden, wo Buknu sich direkt über die Mahlzeit hermachte.
Dann warf er sich gespielt dramatisch in Denkerpose. Kunstpause, mal wieder.
Schließlich sagte er mit ruhiger Stimme:
„Ich glaube, wir haben einen Fall.“
„Ja, seh ich auch so.“
In Sophies Augen meinte er einen Funken der Begeisterung zu erkennen. Richtige Einstellung in diesem Scheißjob.
Kapitel 5: Drehtüreinheiten
Der Fall schien verzwickt, doch Jan Trapp war schon immer ein begnadeter Kopfarbeiter.
Nicht, dass er je bewusst einen Leitspruch formuliert hatte, um seine Arbeit zu beschreiben, aber es wäre bestimmt irgendetwas mit „Hirn“ gewesen und es hätte sich gereimt, aber nicht auf „Stirn“, das wäre zu einfach.
Vielleicht auf „Zwirn“ oder „verwirr’n“, vielleicht hätte er auch einen Haiku getextet, ein Elfchen gar, aber das war etwas für den Prolog seiner Autobiografie, und was er jetzt brauchte, war keine Biografie, sondern ein Auto.
„Sophie, du hast nicht zufällig einen eigenen Wagen?“, nuschelte er, während er sich darum bemühte, mit den Zähnen der lästigen Reste zerkochter Spülinudeln zu erwehren, die zwischen seinen Zähnen steckten wie zwergwüchsige Apocritar zwischen den Zähnen verlotterter Motorradfahrer.
Die Phrase „Hüte dich vor Weizenstärke, denn sie klebt wie Scheiße“ musste er sich direkt nach Feierabend notieren. Trapp sammelte potentielle Glückskekssprüche.
Schließlich schossen an allen Ecken und Enden die Chinakantinen aus dem Boden, da sollte man frühzeitig investieren und rechtzeitig verkaufen. Er wusste nicht, ob, und wenn ja, wie gut Peking für seine kreativen Ergüsse zahlen würde, aber wer Marktlücken nicht frühzeitig erkannte, musste dann eben Kommissar werden.
„Nein, ist in der Werkstatt“, konstatierte seine jüngst dazugewonnene Kollegin. Das war also der Dank für seine selbstlose Ketchuprettung. Die gezuckerte Tomatenpampe brodelte noch immer hochvergnügt irgendwo zwischen Magenpförtner und Dickdarm.
Ob Tomaten Pilze waren?
Oder Abarten von Parmesankäse?
Oder in diesem Fall abgelaufen?
Aber das war ja gar nicht Inhalt ihres Falles.
„Das ist aber schade“, erwiderte Trapp im latent psychopathischen Tonfall bewusst emotionaler Kinderfernsehmoderatoren. Einen verwirrten Blick mit hochgezogenen Augenbrauen später erklärte er sich.
„Ich finde, wir sollten uns den Tatort noch einmal bei Tageslicht besehen. Und in zivil, schließlich wollen wir ja keine schlafenden Hunde wecken. Wahrscheinlich hat der Regen die meisten Spuren sowieso schon verwischt, aber schaden kanns ja kaum und was Besseres fällt mir jetzt auch nicht ein, also why not, die Pferde gesattelt, auf, auf in den Sonnenuntergang.“
Die bislang recht zügig neben ihm her trabende Kollegin verlangsamte ihren Schritt merklich, offenbar von Trapps Äußerungen irritiert. Einen Augenblick überlegte der Kommissaranwärter, ob sie gleich rückwärts gehen würde, aber offenbar sah sie ihm sein wirres Auftreten noch einmal nach.
„Ja, schön und gut. Vielleicht könnten wir auch noch einmal bei den Nachbarn vorbeischauen und die befragen“, warf Sophie ein, „obwohl Uwe das ja eigentlich gestern schon machen wollte, aber bei so vielen Mitarbeitern steht „Kompetenz“ eher nicht auf der Stirn tätowiert.“
Trapp wollte schon einwerfen, dass das ja auch selten dämlich aussehen würde in ein paar Jahrzehnten, wenn dann ein alter Tattergreis Spuckfäden absondernd im Schaukelstuhl hin- und herwackelt, aber immer noch ein leicht verzerrtes, wenngleich stilistisch astreines „Kompetenz“ in schwarzen Lettern von Ohr zu Ohr…
„Nee“, murmelte Trapp.
„Ist was?“, fragte Sophie.
„Taxi“, entschied Trapp und bewegte sich schnelleren Schrittes durch die verglasten Gänge der Polizeizentrale von Irfanton.
Schrille Quietschgeräusche begleiteten Trapps Weg, schmutzig-nasse Sohlen und blanker Boden waren in jeder Hinsicht eine miserable Kombination. Dankenswerterweise änderte Trapp das ja ohnehin quasi im Vorbeigehen, aber die Putzkolonne wurde ja auch nicht fürs Nichtstun bezahlt.
Mittlerweile hatten sich die Wolken, die am Vormittag noch bedrohlich und allzeit bereit, sich weiter auszuregnen, über der Stadt hingen, irgendwo ins hügelige Umland verzogen, zumindest waren sie unauffindbar, wie Trapp erfreut feststellte.
Auf die Sonne traf das nicht zu, sie stand an Ort und Stelle und leuchtete dem bunt eingefärbten Laub auf die Blattadern, dass das sonst so schmuddelige Panorama blitzte wie ein etwas modrig riechender Regenbogen.
Ungeduldig passierten die beiden jungen Polizeibeamten schließlich die Drehtür, die aufreizend langsam so tat, als wäre sie stinknormalen Türen technisch haushoch überlegen.
Trapp war nicht überzeugt und tippte nervös mit den Zehenspitzen gegen die zu langsam kreiselnde Trennwand, bis er schließlich nach geschätzt fünf unendlich langen Sekunden an die frische Luft trat.
Der Taxistand war ganz in der Nähe, Trapp schätzte, dass sie nicht mehr als 24 Drehtüreinheiten für die Wegstrecke benötigen würden.
„Planpokemon“, grübelte Sophie ins Nichts.
Noch am Mittagstisch hatte Trapp ihr die Inhalte seines zuvor abgehaltenen Verhörs dargelegt. Das war nicht viel und inhaltlich recht mau, aber der Kommissaranwärter kam sich alleine dadurch, dass er endlich mal jemandem sagen konnte, wo es langging, gleich ein bisschen weniger sinnlos vor.
Normalerweise stellte man ihn für die possierlichsten Aufgaben ab, da sollte er einem Hauptkommissar die Uhrzeit zurufen oder einen Verdächtigen so lange unbequem anstarren, bis dieser entweder in plötzlich entbranntem Fieberwahn den Untersuchungsraum architektonisch verschönerte oder zugab, seiner Schwiegermutter mit einem handangespitzten Nudelholz zwölfmal in den abdominalen Bereich gestochen zu haben, wenn es doch eigentlich nur um so etwas Triviales wie einen Tankstellenraub ging.
„Ich glaube, wir sollten uns mit Mettels bekloppter Legende nicht weiter aufhalten, das führt erst mal zu nichts“, schlug Trapp vor.
„Ich hab mal gegoogelt, der erste Treffer zu dem Wort ist irgend so ein schlecht geschriebenes Märchen in einem Kinderforum“, meinte Sophie kopfschüttelnd.
Der Fall lag offenbar noch konfuser dar, als Trapp ihn ohnehin geschildert hatte. Verhältnismäßig ratlos stiegen sie ins Taxi.
„Wohin du Taxi unterwegs?“, erkundigte sich der feist, aber freundlich dreinschauende Fahrer höflich.
„Wiesenstraße 3“, meinte Trapp bestimmt.
„Wisent? Habe viel gejagt damals in Heimat, mit große Gewehr, viele Wisent. Aber nicht mehr dürfen, Liste mit Tiere bedroht, du weißt. Wisentstraße?“
Der Mann unterstrich seine Aussage durch eine Vielzahl ausladender Gesten und zog die einzige Augenbraue hoch.
„Ich nicht gehört.“
Trapp dämmerten die Hintergründe. Aus dem Augenwinkel erkannte er zudem die obligatorische Duft-Tanne, die allerdings diesmal nicht das fabrikneue Fahrgestell simulierte, sondern eigentümlich nach Bratwurst duftete.
Konnte auch der wisentschießende Fahrer sein.
„Ähm, Entschuldigung“, räusperte sich Trapp.
„Ich meinte natürlich die Straße, deren Namen niemand kennt.“
Wisent-Django nickte wissend und trat aufs Gas. Irfanton schien seine Legenden zu pflegen.
Verständlich, es hatte auch nur eine.
Wobei Trapp das fast ein bisschen schade fand.
Man könnte gut und gerne noch eine kleine Anekdote zur Stadtgeschichte hinzufügen, irgendetwas Gruseliges mit klebrigen Spaghetti und Kastanienlaubsumpf.
Trappokalypse now.
Dafür würde er keinen Glückskeks benötigen, sondern eine ganz Glücksprinzenrolle.
Sophie verbrachte die Fahrt seltsam verschwiegen. Sie hatte sich einen pastellfarbenen Schal um den Hals gewickelt, Trapps analytisch abgerichteter Cortex interpretierte das als Modebewusstsein, Halsweh und Präventionsmaßnahme gegen das Mistwetter.
Gemütlich rumpelte die Blechdroschke über schlecht geflickten Asphalt und spritzte kleine Familien mit dem Abwasser aus Pfützen nass.
Wenige Drehtüreinheiten kamen die Reifen quietschend zum Stehen, Trapp zahlte und gab ausnahmsweise sogar Trinkgeld, um schließlich hinaus auf die Straße zu treten. Die Wiesenstraße hatte offenbar nicht nur mythologische Besonderheiten, sie war noch dazu verflucht lang.
Natürlich hatte man ihn und seine Begleitung an der exakt falschen Ecke abgesetzt.
Scheißjob.
Trapp gewährte Buknu ein wenig Frischluft, Sophie schloss sich der Idee an und ließ ihrerseits den Pokeball aufschnappen.
„Wieso wolltest du eigentlich Polizist werden?“, bemühte sich Sophie um ein wenig Konversation.
„Naja, sehe ich aus, als könnte ich etwas Anderes?“
„Dir hängt dein Hemd aus der Hose, dir klebt Ketchup am Mundwinkel und du bist nur unbedeutend weniger anstrengend als witzig. Wenn es nach dem Aussehen geht, kannst du gar nichts“, analysierte Sophie verschmitzt.
Trapp setzte einerseits zur Antwort an, fuhr sich aber gleichzeitig in einem Reflex über den Mund, um die Speisereste endgültig zu entfernen. Dabei biss er sich fast auf die Hand, was den Gesamteindruck nicht unbedingt abmilderte, es sei denn, es sah gewollt und lässig aus, aber aus irgendeinem Grund war sich Jan Trapp dessen nicht allzu sicher.
Sophie lachte.
„Verplant ist gar kein Ausdruck“, meinte sie.
„Nicht jeder schafft es in den gehobenen Dienst“, gab Trapp zu bedenken.
„Stimmt wohl. Aber ist ja jetzt auch nicht weiter tragisch.“
Unterdessen vergnügten sich Buknu und Rabicet mit einem im Gebüsch nach Beeren suchenden Kleintier, das Trapp irgendwann einmal in einem Dokumentarfilm über irgendetwas mit Flussbewohnern und Umweltverschmutzung gesehen hatte.
Vielleicht sollte er es einfangen und für spätere Zeugenaussagen behalten.
Andererseits hatten derzeit wohl sämtliche Dolmetscher zu tun oder Lebensmittelvergiftungen. Manche mochten im Urlaub sein und fleißig Wisente schießen, erreichbar war zumindest keiner der faulen Bande.
An einer Litfaßsäule, die pompös die bevorstehenden kulturellen Highlights des Örtchens und ein Prostatamedikament bewarb, machte sich ein Junge von etwa 16, 17 Jahren zu schaffen und leimte ein selbsterstelltes Plakat über eine klassische Konzertveranstaltung.
Unterstützt wurde er dabei von zwei farbeagleartigen Gestalten, die sich im Wechsel selbst bemalten und ansonsten unanständige Symbole auf die verbliebenen Plakatflächen kritzelten.
„Hey, Freundchen“, rief Trapp dem Litfaßsaulus zu.
„Das musst du anmelden!“
Der Junge schaltete auf Durchzug oder hatte wieder diese bescheuerten Musikstecker im Ohr, Trapp wusste es nicht, aber er musste es auch nicht.
„Pssst“, machte Sophie.
„Verschreck das Kerlchen nicht gleich. Vielleicht treibt der sich hier öfter rum und hat was gesehen.“
„Guter Gedanke“, murmelte Trapp.
Der Kommissaranwärter tippte dem Schmierfink auf die Schulter.
Der müde aussehende junge Mann nahm die Stöpsel aus dem Ohr.
„Jan Trapp, Kriminaldienststelle Irfanton, das ist meine Kollegin Sophie Lese“, floskelte Trapp vor sich hin und zeigte seinen Ausweis vor.
„Wir kommen in Frieden“, fügte er beschwichtigend an, als sich die Augen des Angesprochenen vor Schreck weiteten. Klang allerdings in dieser Form irgendwie nach Alieninvasion, das wäre dann weniger beschwichtigend.
„Hören Sie, Officer, ich mache das für einen guten Zweck. Kennen Sie die Bürgerinitiative „Fahrradfreundliches Irfanton“ nicht?“
„Hä?“
Trapp blickte ein wenig belämmert aufs Plakat, das lauthals die Notwendigkeit neuer Fahrradwege für die Ortschaft verkündete. Keine schlechte Idee, nur hatte Trapp kein Rad mehr, dem gegenüber man freundlich sein könnte.
„Hier ein Fragebogen für die Dame.“
Der Junge händigte Sophie Kugelschreiber und Zettel aus.
„Gut, damit hätten wir das geklärt.“ Trapp fühlte sich ein wenig überrumpelt.
„Also, Sie sind…?“
„Meine Freunde nennen mich Rainer“, flüsterte das Plakatmännchen zu beschwingt, um nicht unter dem Einfluss irgendwelcher Substanzen zu stehen.
„Wie der Regen, nur… Du weißt… Anders, son bisschen.“
Trapp blickte erbost zu Sophie.
Und er sollte verplant sein?
Dieser eklige Beinahe-Banksy hier war ja wohl weitaus schlimmer als alles, was in seinem Hirn an Unfug vor sich ging!
Doch seine Kollegin schien ganz in das Zettelchen vertieft, auf dem sie konzentriert ihre Kreuze setzte.
„Also, Bruder“, betonte Trapp aggressiv.
„Wo warst du gestern gegen Mitternacht?“
„Zuhause“, kam es wie aus der Pistole geschossen zurück.
„Menschen aus dem Fenster beobachtet.“
„Und wo ist dein Zuhause?“
Der Junge wies auf eine viktorianische Villa auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
„Gleich da drüben.“
„Hast du irgendetwas Verdächtiges gesehen?“
„Dunkle Mäntel, seltsame Typen, knutschende Pärchen, Frauen mit Hund, und wow, es war langweilig.“
Trapp musste an sich halten, um den Plakatkleber nicht am Kragen zu packen.
„Das hilft uns allen nicht weiter, mein Freund.“ Sophie händigte ihm unterdessen den fertig markierten Fragebogen aus, den der Junge kurz überflog.
„Immerhin haben Sie die Fragen auch richtig gelesen und nicht einfach irgendwas hingeschrieben“, freute dieser sich.
„Die meisten, die so einen gekriegt haben, machen da nix Konstruktives draus. Aber Sie können einen Fragebogen auch ausfüllen.“
„Danke, Rainer“, wiegelte Sophie ab.
„Aber das steht jetzt nicht zur Debatte. Wir ermitteln in einem schweren Kunstraub. Vielleicht haben sie letzte Nacht das ein oder andere Martinshorn gehört.“
„Oder meine Fahrradklingel“, ergänzte Trapp.
„Sagen sie das doch gleich“, entgegnete der Junge, ohne von seinem Plakat aufzusehen.
Die Farbeagle fügten der Straße derweil einen zusätzlichen Zebrastreifen bei.
„Aber ich hab echt nix Großes gesehen, echt nicht. Werde aber die Augen offen halten. Schönen Tag noch, die Damen und Herren Kommissare!“
Kopfschüttelnd ließen Trapp und Sophie den seltsamen Kerl zurück.
Es wurde Zeit, dass sie den Tatort ein weiteres Mal inspizierten. Ihn untersuchten.
Auf Indizien, die bislang übersehen wurden, und sei es nur, weil es in der Spurensicherung nicht ausreichend Schilder gab.
Kapitel 6: Störsignale
Die Regentropfen vorangegangener Schauer tänzelten auf den Streben der anthrazitfarbenen Pforte.
Jan Trapp fand, dass sich nasses Metall immer irgendwie schmierig anfühlte. Sowieso geschahen seltsame Dinge, wenn Gegenstände mit Wasser in Berührung kamen. Hunde fingen an zu stinken, mit ihm selbst geschah das Gegenteil, weiße T-Shirts wurden transparent. Eher opak mutete der dichte Urwald rings um ihn und die hinter ihm auf das Grundstück getretene Sophie an. Jetzt noch ein Tropenhut und er würde einen täuschend echten Amazonasforscher abgeben, nur mit weniger Amazonas. Wobei er nicht wusste, ob sich irgendwo abseits des durch helle Platten kenntlich gemachten Weges nicht die eine oder andere Stromschnelle verbergen mochte. Bestimmt konnte man hier auch gut Pilze sammeln.
„Kann der sich keinen Gärtner leisten?“, spottete Sophie aus dem Hintergrund.
Natürlich könnte Mettel, wenn er wollte. Aber wozu auch englischen Rasen trimmen, wenn sich irgendwo im Dickicht die Wisente verstecken mussten. Ob Trapp da etwas durcheinander brachte? Wer wusste das schon.
Der Kommissaranwärter höchstselbst musste nun allerdings zunächst einmal wissen, ob irgendjemand vor ihm womöglich etwas durcheinander gebracht hatte. Vielleicht waren Halme plattgetreten, womöglich existierten tiefe Fußspuren im aufgeweichten Erdboden – doch nein, nichts dergleichen. Im Eingangsbereich gab es einige Flächen, auf denen sich die Profile diverser Sohlen tummelten, aber Trapp erinnerte sich, dass sich das gestrige Polizeiaufgebot an diesem Fleckchen versammelt hatte. Wenn es Indizien gab, hätte das Gesetz sie bereits vernichtet, als wären es Akten zum Rechtsterrorismus.
Wahrscheinlicher aber war, dass die wuchernde Grünfläche schlichtweg nicht betreten worden war. Umso betretener hingegen war der Gesichtsausdruck des heute weniger nobel daherkommenden Sir Mettel, als er ihnen nach kurzem Klopfen die Tür öffnete. Trapp ließ sein Buknu erneut im blau-silbernen Polizeipokéball verschwinden, Sophie tat es ihm mit Rabicet gleich. Schließlich schickte es sich nicht, bei so einer stink- wie einflussreichen Persönlichkeit den teuren Designerteppich aus einhundert Prozent goldenem Vlies mit so etwas proletarischem wie Pfotenspuren zu besudeln.
Müde und kopfnickend gab Mettel den Polizisten einen Wink. Trapp folgte ihm durchs Parterre, Sophie verstaute ihren Schal schnell an der Garderobe und kam dann nach. Über eine unscheinbar in die Wand eingelassene Wendeltreppe, einen Schleichweg offenbar, führte sie der immer etwas schmächtig und zerstreut wirkende Hausherr in eine Art Gästezimmer, das jedoch noch immer pompöser wirkte als Trapps Wohnung als Ganzes.
Eine in steter Folge leise, piepsende Geräusche von sich gebende Petroleumlampe tänzelte in Spiralen um die Tischbeine und emittierte Lichtquanten in der empfohlenen Tagesdosis eines Gruselschlösschens. Trotz seiner hochherrschaftlichen Ausmaße wirkte der Raum warm und gemütlich, und immerhin war in diesem Fall nur der Tisch einem Antiquitätengeschäft entsprungen, die Stühle hingegen erinnerten an die drehbaren Businesssessel, über die jeder zweite Schreibtisch im Großraumbüro der Irfantoner Polizei verfügte. Der Etat musste von Jahr zu Jahr gesenkt werden, da in Irfanton so viel nun wirklich nicht passierte und man die ständig urlaubenden Kollegen ja auch von irgendetwas bezahlen musste, deswegen hatte nicht jeder einen Drehstuhl zugewiesen bekommen und an vollen Tagen erinnerte das Treiben ein wenig an eine Reise nach Jerusalem des Innendienstes, aber so war der Job, fressen und gefressen werden, und Trapp, ehrgeizig, wie er war, fraß alles außer Parmesan.
Er hatte immer Drehstühle.
Mettel verließ für einen Augenblick den Raum, während sich Sophie und Trapp nebeneinander an die karg und leer wirkende Tafel gesellten.
"Hast du ihn nicht heute schon einmal verhört?“, zischte Sophie zu ihm rüber.
„Ja, denke schon. Aber auf nüchternen Magen stellt man schüchterne Fragen. Alte Bauernregel.“
„Ich zweifel deine Bauernschläue ja auch gar nicht an“, flötete seine Partnerin in einem Tonfall, der das exakte Gegenteil vermuten ließ. Mettel kam erneut durch den Türspalt geschlurft und setzte sich gebieterisch an die Tischkante.
„Ich habe einen Tee aufgesetzt“, verkündete er hüstelnd. Trapp musterte ihn kurz und wollte schon fragen, ob der Tee runtergefallen sei, da nicht mehr auf Mettels Kopf, dann dämmerte ihm, dass „Tee aufsetzen“ wohl adelig für „Wasser warm machen, um nachher Beutel reinzuhalten“ war.
Immer diese Idiome, Trapp war nicht gut in Fremdsprachen, nur Schweizerdeutsch meinte er, zu können, aber das war etwas für Polterabende und Grillpartys, das hier war ein Kriminalfall, da musste man in harten, kurzen Sätzen reden und schon mal auf den Tisch hauen. Letzteres unterließ Trapp bewusst, niemand wusste, ob das prähistorische Möbel splittern oder gar brechen würde. Stattdessen eröffnete allerdings Sophie die Konversation und deutete auf irgendeinen gerahmten Farbfleck an der Wand, dem Trapp wenig Beachtung geschenkt hatte.
„Sammeln Sie eigentlich in eine bestimmte Richtung, haben Sie die Kunstschätze geerbt oder richten Sie unabhängig vom Thema, passend zum Zimmerstil ein?“
Mettels schläfriger Blick klarte sich schlagartig auf, er schob seinen Stuhl zurück und trat zur Wand.
„Also, dass, Frau…“
„Lese“, erwiderte Sophie.
„Sophie Lese.“
„Lese wie die Weinernte?“
„Nein, wie der Esel von hinten“, warf Trapp ein.
Mettel verzog das Gesicht und Sophie rollte mit den Augen. Der junge Adlige fuhr unbeeindruckt fort.
„Das hier“, er deutete auf das schwach angeleuchtete Abbild eines nicht näher definierbaren Irgendwas und senkte die Stimme, als wäre die Kleckserei ein Grund zur Ehrfurcht, „ist ein echter Claude Eckel, Kreide auf Leinwand, 1924. Den habe ich vergangenen Herbst bei Pokéby’s ersteigern können.“
Er wartete auf eine Reaktion der Fragestellerin, die schnell ein höfliches Nicken hinterherschob. Mettel fuchtelte kurz mit den Händen, als wolle er Mücken verscheuchen, und setzte dann erneut zum Reden an.
„Die meisten meiner Werke sind allerdings Erbstücke. Der Tisch, an dem sie hier sitzen, gehörte einst der großen Elke Pohn. Kennen Sie? Kennen Sie nicht? Dunkles Kapitel der Familiengeschichte. Wie auch immer“, er fummelte sich eine Haarsträhne aus dem Asketengesicht, „vieles zeichne ich auch selbst. Es ist also alles dabei. Und es kommt auch immer darauf an, stimmt’s?“
Worauf es ankam, ließ er offen. Immerhin hatte er sich wieder gesetzt, Sophie schickte dem Dampfplauderer noch ein paar anerkennende Floskeln hinterher, während Trapp Däumchen drehte und versuchte, im Kopf den Winkel zu schätzen, den der kleine und der große Zeiger seiner Armbanduhr in diesem Augenblick – es war 13:47 Uhr – einschließen mochten. Allerdings hatte er ja immer noch einen Fall zu lösen.
„Also, Herr Mettel. Bezüglich der Planpokémon…“ Ein schrilles Pfeifen unterbrach jäh Trapps halbgare Konversationsversuche. Hausherr Mettel nuschelte irgendetwas von „Tee ist fertig“ und verschwand schon wieder.
„Nerviger Kerl“, konstatierte Trapp, als sich die Tür zum Nebenzimmer geschlossen hatte.
„Was hat er dir denn getan?“, hakte Sophie nach.
„Vielleicht ein bisschen steif, aber immerhin hat er Geschmack.“
Trapp wollte sich schon über diese maßlose Untertreibung empören und so etwas sagen wie „Der hat keinen Stock im Arsch, da klemmt Minimum ein ganzer Satz Mikadostäbchen!“, verkniff sich den vulgären Ausrutscher aber noch eben gerade, als Mettel samt vogelartigem Hilfs-Pokémon hereinkam, um den vorgezogenen Kaffeetisch zu decken. Leise brodelte der Tee in Trapps Porzellantasse vor sich hin.
Er war nicht unbedingt der Tee-Mensch, aber er wollte das kunstsammelnde Pseudo-Königskind nun nicht auch noch mit einer Bitte um Fanta irritieren. Mettel hingegen öffnete eine kleine, silberne Schachtel und wandte sich an Sophie:
„Praline?“
„Meinen Sie mich?“
„Ich meine das Konditoreierzeugnis in der Schale da, aber ich frage sie.“
„Ja, gerne.“
Trapp gähnte in seiner Tischecke. Er bekam nichts dergleichen angeboten, was ein wenig sexistisch war, doch der Kommissaranwärter entschied sich nach kurzem Überlegen dagegen, im Gegenzug eine öffentliche Beschwerde auf Twitter abzusetzen. Am Ende waren da Trüffel drin, und das waren ja auch nur Pilze, genau wie Champagner nur Fusel war und Kaviar nur Stör-Eier.
Aber der einzige Störfaktor, mit dem er derzeit zu tun hatte, war ein neureicher Feingeist, der offenbar die Unparteilichkeit der Polizei auf die Probe stellen wollte. Da der Tee sowieso zum Trinken zu heiß war, entschied sich Trapp für Tacheles:
„Also, Sir… Herr… Öhm… Mr. Mettel.“
Das mit der Anrede flutschte schon mal. Trapps rhetorisches Talent hatte wohl gerade Urlaub oder war zumindest auf Kur oder wo man sich heutzutage befand, wenn man nicht faul klingen wollte. Egal, der Kommissaranwärter fasste sich schnell wieder.
„Wer hätte alles rein theoretisch Zugang zum Atelier gehabt?“ Mettel hüstelte und öffnete den oberen Hemdknopf. Offenbar war er ein wenig erkältet.
„Nun, sie haben doch gesehen, dass die Fenster eingeschlagen waren. Meine Werke brauchen das Sonnenlicht, müssen Sie wissen, große Fenster sind da absolut obligatorisch, sonst wirkt das Werk stumpf und traurig“; erklärte er in stumpfem wie traurigem Tonfall. Trapp grinste sein verstörendstes Verschwörergrinsen und beugte sich einmal quer über den Tisch.
„Mag ja sein“, entgegnete der junge Polizeibeamte, „aber haben Sie sich mal angesehen, wo das ganze Glas liegt? Alles draußen, düngt gerade ihre schöne Chrysanthemenhecke oder was das auch immer für ein Obst ist, das sie da liegen haben. Da ist niemand durchs Fenster eingestiegen, wär ja auch schön blöd, bei den ganzen zackigen Splittern, die da noch hängen. Herr oder Frau Kunstbanause hat von innen gewütet…“
„…und muss durch die Tür gekommen sein“, ergänzte Mettel nachdenklich.
Trapp sah, dass diese Erkenntnis seinem Gegenüber bislang noch nicht gekommen war. Ihm fielen solche Dinge auf, das war einfach, das ging gut, nur so simple Dinge wie offene Schnürsenkel übersah er gerne mal, doch das machte ihn nicht verplant, nein, es machte ihn unberechenbar wie die letzte Nachkommastelle von Pi.
Mettel unterdessen hatte den Kopf in die Hände gestützt und dachte nach.
„Die Alarmanlage ist nicht angesprungen“, wiederholte er das Offensichtliche.
„Jemand muss den Code gekannt haben.“
„Code?“, wiederholte Trapp verblüfft.
Garten und Haus erinnerten mehr an Präkambrium denn an ein modernes Hochsicherheitszentrum. Offenbar hatte Mettel allerdings auch ein Faible für die elektronische Eigentumssicherung.
„Man muss einen vierstelligen Zahlencode eintippen, um ins Atelier zu gelangen“, erläuterte Mettel.
„Das ist wie beim Geldabheben. Bloß, dass die Werte in meinem Atelier… Sagen wir, deutlich brisanter sind.“
„Und wie lautet dieser Code?“, wollte Trapp wissen.
„Das kann ich Ihnen leider nicht sagen“, wehrte der junge Adlige ab. Schweißperlen traten ihm auf die Stirn.
„Ich hüte diesen Code wie meinen Augapfel.“ Trapp fand diesen Vergleich durchaus passend, er hatte neulich einen Film gesehen, in dem sich die Türen nur für vom Iris-Scanner autorisierte Personen öffneten. Er kannte auch einen Film über einen Typen, der von Pralinenschachteln redete, aber dazu fiel Trapp kein passender Vergleich ein, also hakte er einfach weiter nach.
„Hat außer Ihnen noch jemand Zugang zu diesem Code? Haben sie ihn irgendwo aufgeschrieben oder aufbewahrt?“
Mettel atmete einmal tief durch.
„Ja, ich kenne eine weitere Person, die von der Zahlenfolge weiß.“
„Und, wer ist diese Person, die Sie kennen?“ Trapp hatte gewonnen. Mettel nicht, er druckste herum, fasste dann allerdings einen Entschluss.
„Sie hat eine kleine Villa in Schaberode. Wissen Sie, das Ganze liegt etwas komplexer… Kommen Sie einfach mit, ich fahre den Wagen vor und dann werden sie sehen, was ich meine.“
Der seltsame Vogel, der immer noch mit Teekanne um sie herumstand, verließ das Zimmer. Trapp und Sophie schütteten sich die Reste ihres Heißgetränkes in den Rachen und warfen sich kurz einen Blick zu.
„Gut“, bestätigte Sophie in Ermangelung sinnstiftenderer Konversationsbausteine. Der Vogel hatte mittlerweile ihren Schal von der Garderobe gepflückt und hielt ihn ihr hin. Selbst die Haustiere haben hier Gentlemancharakter, fiel Trapp auf.
„Wir sehen uns draußen“, rief Mettel ihnen nach, während Chamane die beiden durch einige prunkvolle Gänge bis zu einem weiteren, der Wiesenstraße abgewandten Ausgang geleitete.
Durch die Hintertür fanden Trapp und Sophie zurück an die frische Luft. Mittlerweile stand die Sonne endlich wieder buchstäblich hoch im Kurs, wäre Jan Trapp eine Photovoltaikanlage gewesen, er hätte seine helle Freude an diesem Wetter gehabt. Aktuell war er jedoch ein Mann mit einem Fall, und da reduzierten sich seine Serotoninlieferanten auf Walnüsse und Fallabschlüsse.
Letztere warfen ihre Schatten voraus. Mit Erstaunen wurde der Kommissaranwärter nun aber anz fallunabhängig Zeuge davon, wie seine Kollegin sich einen ettikettfreie Packung Zigaretten aus der Tasche zog, um sich eine davon per Feuerzeug anzuzünden.
„Du rauchst?“, fragte Trapp mit echtem Erstaunen. Es mochte an der Dufttanne liegen, aber bislang hatte er von diesem Laster noch nichts riechen können. Außerdem mochte er keine Raucher. Wäre er eine Kuh, würden sich Trapp schon beim Geruch so einer Zigarette vier Mägen gleichzeitig umdrehen. Sophie hatte den Vorwurf herausgehört und zog ihre Flunsch schneller als ihr Schatten.
„Eigentlich nicht“, meinte sie leise und schuldbewusst.
„Hab vor zwei Jahren aufgehört. Aber aktuell ist’s ein bisschen stressig, weißt du… Man überarbeitet sich schnell und nach Dienstschluss ist das Leben auch noch kein Zuckerschlecken.“
Eine längere Pause folgte. Trapp hatte den Eindruck, einen Punkt angesprochen zu haben, dem der Mantel des Schweigens besser gestanden hätte. Mettel ließ sich noch nicht blicken. Irgendwann entschloss sich Trapp, die Stille zu durchbrechen.
„Mir gefällt nicht, wie dieser Typ sich inszeniert.“
Sophie nahm zur Antwort einen Zug von ihrem Glimmstängel und pustete den Rauch dankenswerterweise nicht in Trapps Richtung.
„Und das macht dich stutzig?“, fragte sie.
„Das muss mich nicht stutzig machen, ich bin schon stutzig“, erklärte Trapp säuerlich.
„Na denn“, befand Sophie und drückte die Zigarette am regenfeuchten Gitter der Eisenpforte aus. Der Hintereingang unterschied sich optisch vom Vordereingang kaum, bloß, dass der Weg zu Haus und Garage geteert statt von Marmorsprenkeln dominiert war.
Zwei Scheinwerfer tauchten vom Grundstück her auf, ein pechschwarz glänzender Oldtimer folgte. Mettel kurbelte die Scheibe runter.
„Steigen Sie ein!“, rief er den beiden zu, offenbar nun gar nicht mehr so verschnupft, vielleicht hatte er sich eine Aspirin eingeworfen, womöglich beflügelte ihn aber auch der ungelenke Charme der nicht-so-adeligen Welt, ihn die er hineingezogen wurde.
Kapitel 7: Schaberoadtrip
Die Momente kamen und gingen, in denen Jan Trapp sich wünschte, eine handliche Sauerstoffflasche samt Schnorchel griffbereit mitzuführen. Der tiefere Sinn darin bestünde keineswegs im Erzielen sportlicher Höchstleistungen - eine Taucherbrille und Schwimmflossen hätte er sich ja sonst direkt dazu wünschen können, wenn er denn noch mehr Wünsche frei hätte, doch das tat er keineswegs – es ging vielmehr ums nackte Überleben. Wobei Nacktheit das Überleben in der aufgestauten Gluthitze der pechschwarzen Limousine womöglich noch erleichtert hätte.
„Geht es Ihnen gut?“, erkundigte sich Mettel, die eine Hand am Steuer, die Andere frei und orientierungslos über dem Armaturenbrett schwebend, wie um seinen Beifahrern zu bedeuten, dass auch er nicht wusste, wo hier die Heizung an- oder ausging. Sophie traute sich auf dem Beifahrersitz offenbar nicht, seiner Durchlaucht auf die Sprünge zu helfen. Immerhin wirkte sie den Umständen entsprechend tiefenentspannt und deutlich fitter als ihr Kollege. Schweiß perlte als unbeständiges Rinnsal von Trapps Stirn auf die womöglich sündhaft teure Ledergarnitur.
Ob er sich Sandsäcke über die Nasenwurzel klatschen sollte, um nichts zu überschwemmen? Und gab es da kein technisches Hilfswerk oder wenigstens eine Feuerwehr für? Seit knapp 10 Minuten harrten sie nun schließlich schon gemeinsam im Fegefeuerferrari des bestohlenen Vorzeigeschnösels aus und ließen sich munter durch die Landschaft kutschieren. Mettel hatte die Bitte ausgeschlagen, ein Fenster herunterzukurbeln – die fadenscheinige Ausrede, irgendetwas mit Schnupfen, hatte Trapp geflissentlich überhört.
Wartezimmer waren doch teils ganz lauschige Örtchen, an denen es gute Zeitungen und viele nette Menschen mit spannenden ansteckenden Krankheiten kennenzulernen gab.
„Es ging mir nie besser“, murmelte der Komissaranwärter mit verbissener Miene zur Antwort. Mettel nuschelte noch etwas, das in Trapps Ohren wie „spricht nicht gerade für Sie“ klang, und wechselte den Radiosender von irrelevanten Regionalnachrichten auf andere irrelevante Regionalnachrichten, verlesen von einer haarsträubend nervtötenden Moderatorenstimme.
„Nach Wochen des zähen Ringens kommt Bewegung in das Bauvorhaben Westtangente. Kurt Timmerhorst, Leiter des Irfantoner Bauamtes, sagte dazu…“
„Mr. Mettel, wäre es möglich, dass mal irgendwas Musikalischeres aus Ihrem fahrbaren Orchestergraben dröhnt?“
Der junge Adlige drehte sich zum schlaff auf der Rückbank hängenden Trapp um.
„Was wollen Sie denn hören?“
„Alles außer Metal“, entgegnete Trapp, in der Hoffnung, dass seine kleine Provokation nicht auffallen würde. Der Seitenhieb schien am blaublütigen Kunstfreund vorübergegangen zu sein. Während das schwarz glänzende Geschoss blind über die Landstraße jagte und sich Schlagloch für Schlagloch mit klebrigem Straßenstaub puderte, kramte Mettel in der CD-Ablage.
„Ich hab hier „Vogelstimmen aus dem Vertania-Wald, aufgenommen in der Morgenröte“. Das entspannt mich immer gut, nach dem Joggen oder im Winter, wenn… Ach, sie wissen ja gar nicht, Vogelstimmen im Winter! Man denkt, sie sind verschwunden, manchmal kommen sie noch an die Meisenknödel, doch…“
Ein reflexartiger Tritt Trapps in die gut gepolsterte Rückenlehne seines Vordermannes unterbrach den Vorschlag jäh. Dann eben keine Musik. Hin und wieder wagte Trapp einen Blick aus dem Fenster, in der Hoffnung, dass ihm schlecht würde und er somit eine legitime Ausrede hätte, sich von diesem jämmerlichen Fall beurlauben zu lassen.
Das machte schließlich heutzutage jeder. Kunstdiebstahl. Wie profan!
Gerade für jemanden wie Trapp, der sich bereits vor Monaten mit einem Bein im Morddezernat gewähnt hatte. Erst später stellte sich heraus, dass es sich dabei um den tragischen Arbeitsunfalls eines einsam verbluteten Schreiners gehandelt hatte. Von diesem Tag an war Trapp vorsichtiger geworden, was das Bewerten von Indizien anging. Und die Indizien im vorliegenden Fall stellten sich nach wie vor als sehr vage dar. Nur eins ließ sich nicht von der Hand weisen: Kuchenteig war mindestens so atembar wie dieser Klumpen Luft.
Irgendwo zwischen Wachsein und Fiebertraum öffnete sich eine Tür und kühle, frühherbstliche Luft strömte ins Wageninnere. Mit einer Mischung aus Schlusssprung und Judo-Falltechnik stolperte Jan Trapp aus dem Metallkäfig ins Freie. Wie durch ein Wunder hielt er die Balance. Missgelaunt kickte er einen großen Kiesel über den sandigen Parkplatz, auf dem sie angehalten hatten.
Sophie und Mettel waren offenbar schon vor ihm aus dem Wagen gestiegen. Durch Tränen und Schweiß hindurch linste Trapp auf die Anzeige seines chinesischen Chromoptik-Chronometers am Handgelenk. Exakt 14 Uhr. Und 20 Uhr in Peking. Dort wurden wahrscheinlich gerade die Hunde verdaut, vielleicht hatte man sich ja Parmesan dazu gegönnt, das mochte von Haushalt zu Haushalt unterschiedlich sein.
„Wäre ich mein Hund, ich würde mich nicht am Fußende schlafen lassen“, bemühte sich Trapp, thematisch von seinen Abschweifungen zum Smalltalk inspiriert, die sich immer betäubender ausbreitende Stille zu durchbrechen.
„Wofür gibt es Hundehütten“, kam es süffisant aus Sophies Richtung. Ungeduldig trommelten ihre schlanken Finger gegen die Windschutzscheibe der Limousine, die das einzige Fahrzeug auf diesem Parkplatz in der Einöde war. Mettel unterdessen war damit beschäftigt, ein viel zu modernes Smartphone aus den Untiefen seiner maßgeschneiderten, gleichzeitig vornehm und leger wirkenden Jeanshose zu kramen. Trapp ging ein paar Schritte auf und ab und rotierte leicht mit den Schulterblättern, um dem seit der Nacht im Polizeiwagen ordentlich verspannten Nacken entgegenzuwirken. Er nahm einen tiefen Zug Frischluft und schmeckte das Salz seines eigenen Schweißes neben kleinen, umherschwirrenden Fliegen auf seiner Zunge.
Er wusste, wo sie sich befanden. Die Metallstangen, die schief und krumm aus der umgepflügten Grünfläche direkt vor ihnen ragten, verrieten, dass an dieser Stelle noch vor kurzem ein Fußballplatz existiert hatte. Die Markierungen waren Disteln gewichen, die zumeist jugendlichen Kickern Maulwürfen und Spitzmäusen und das kleine Vereinsheim auf der nahe gelegenen Anhöhe war heute eine Praxis für Krankengymnastik, in der ein dicker Finne Hausfrauen einrenkte und die Wirbelsäulen traurig guckender Dorfkinder von etwaigen Knoten und Mäandermustern befreite.
Das Ganze wirkte recht hügelig, hier und da lag ein Fleck Erdreich brach und war gar nicht erst von aufmüpfigen Grashalmen bewachsen. „Hat ein bisschen was von Mondlandschaft hier“, befand Mettel aus dem Off.
„Ja, bloß mit mehr Schnittlauch aufm Fußboden“, entgegnete Trapp abfällig.
„Und mit mehr Schwerkraft“, mischte sich Sophie ein, die mittlerweile ihr Rabicet erneut aus dem Pokeball entlassen hatte, welches unprofessionellerweise die neu gewonnene Freiheit dazu nutzte, über die vom Regen der Nacht durchgeweichte und pfützenübersäte Grünfläche zu hopsen, als gäbe es kein Morgen. Das hier war der Ortsrand von Schaberode.
Trapp verband mehr als eine peinigende Erinnerung mit diesem Blinddarm der Zivilisation, welcher sich über die letzten Jahre fast zur Kleinstadt entwickelt hatte. Nicht wenige spielten auf dem wenige Meter entfernten Sportgelände, von dem Trapp froh war, dass er es damals in der E-Jugend seiner lokalen Gurkentruppe lebend verlassen hatte.
Damals, das war High Life im Dobermannzwinger.
Aber es hatte ihn abgehärtet, und viele seiner Gegenspieler von einst kochten heutzutage Spaghetti oder schütteten Parmesan in Abfalleimer, anstatt ihn an Dritte-Welt¬-Länder oder die Tafel oder irgendwelche käsebasierten Crowdfunding-Projekte zu spenden, wenn es so etwas denn gab. Mühsam nur konnte sich Trapp von den Erinnerungen lösen, die das Déjà-Vu mit dem Relief des Landstrichs in ihm hervorgerufen hatten, und bemühte sich, den Fall nicht aus den übermüdet vor sich hin starrenden Augen zu verlieren.
„Und wo genau geht’s jetzt lang, eure Lordschaft?“
Trapp drehte sich um. Offenbar hatte Mettel ihn nicht gehört, kam nun allerdings sichtlich desorientiert von einem Baum geklettert, der seinen Phänotyp grob an den schiefen Turm von Pisa angelehnt hatte und rote Früchte die trug, die entweder lecker, giftig oder beides waren.
Trapp war sich da nicht mehr allzu sicher und hatte irgendwie schon wieder Hunger. Spaghetti waren eben doch nur etwas für den hohlen Zahn und hohle Zähne waren etwas für Zahnärzte, nicht für Polizisten.
„Was machen Sie da im Gebüsch?“
Dem Blaublüter war jede Farbe aus dem Gesicht gewichen, entweder fühlte er sich ertappt oder es handelte sich um eine unschöne Spätfolge seiner vogelwilden Autofahrt. „Ich hatte kein Netz“, stammelte Mettel und steckte das Smartphone weg. „Jetzt haben Sie da jede Menge Netz“, merkte Trapp an. Dass die Fäden dieses Netzes eher von einem Spinnentier als von der Telekom stammten, sah der junge Adlige dann selbst. Pikiert rümpfte er die Nase, kümmerte sich allerdings nicht weiter. „Nun denn, dann wollen wir mal. Folgen Sie mir einfach! Das Schaberoder Umland gilt so ein bisschen als Everglades des kleinen Mannes, also immer gut aufgepasst, wo sie hintreten!“ Während Mettel sich mit Fremdenführer-Attitüde in die Brust warf, folgten Jan Trapp, Sophie Lese sowie ihre Begleitpokémon – auch Buknu erhielt seine wohlverdiente Frischluftzufuhr – dem Kunstsammler über Trampelpfade und Schleichwege, immer ein bisschen zwischen Wald- und Hügelland flanierend.
„Der noble Herr trägt übrigens heutzutage wieder Fliege“, raunte Sophie ihrem Kollegen zu. Jan Trapp verstand nicht sofort. Mit einem Kopfnicken deutete Sophie auf die Stelle am Revers des jungen Adligen, die das Spinnennetz zierte – tatsächliche hatte sich eine zu Speisezwecken eingerollte Snack-Fliege im Schutz des Netzes auf Mettels Hemd niedergelassen.
Kleider machten Leute.
Und Insekten machten Kleider schmutzig. Der Fußmarsch war länger, als sie erwartet hatten, und Trapps Magen knurrte mal wieder bedenklich. Da war er wieder, der Dobermannzwinger. Vielleicht konnte er am Waldrand Pilze sammeln. Buknu saß unterdessen der Schalk ordentlich im Nacken, unablässig rupfte das Pokémon die Brennnesseln aus, die abseits des Weges wucherten, und kitzelte damit Rabicet, das fiepend davonlief.
Trapp war bereits drauf und dran, sich bei Sophie für das Fehlverhalten seines Schützlings zu entschuldigen, doch die Tatsache, dass die Pokémon Mettel vor die Beine liefen und mehrfach fast zu Fall brachten, ließ die beiden schweigend genießen.
Kakteen und Teelichter wechselten sich ab. Die marmorne Fensterbank wirkte ziemlich überladen und was das sollte, wusste wohl keiner so genau, aber was noch im Haus war, wurde irgendwie verbaut. Flecken auf dem Stein zeugten von ausgelaufenem Allerlei.
Auch die Gardinen hatten Buße tun müssen: Mittlerweile waren die kitschigen Vorhänge halb zerstochen, halb angekokelt. Leere, ein diffus muffiges Aroma verströmende Glasflaschen hatten sich wie Bowling-Pins an der lichtabgewandten Zimmerwand aufgestellt. Etikettiert waren sie mit meist britisch klingenden Vor- und Nachnamen, bei genauerer Betrachtung war allerdings davon auszugehen, dass es sich keineswegs um personalisierte Cola-Flaschen einer englischen Großfamilie handelte.
Der Teppich wirkte, als sollte in Bälde an Ort und Stelle ein Werbespot für Textilwaschmittel gedreht werden. Der junge Mann, der in diesem Moment in ausgewaschenem T-Shirt und bunt bedruckten Bermudashorts träge durch den Türrahmen geschlurft kam, fügte sich nahtlos in der Szenerie ein. Er roch wenig anders als die Flaschenhälse, aber stärker. Beobachter mochten daraus einen Zusammenhang konstruieren, hätte es solche denn gegeben.
Auf dem einsamen Canapé erwartete ihn jedoch weder Männchen noch Weibchen, lediglich Hörnchen und ein paar Zeitschriften, die er aus Wartezimmern hatte mitgehen lassen. Die vermisste sowieso nie jemand, gab es dort schließlich im Überfluss, und wieso sollte man einen interessanten Artikel nicht zu Ende lesen, wenn man schon einmal dabei war?
Mit einem monotonen Scharren, das dem Gehörgang nicht gerade schmeichelte, wetzte das Hörnchen seine Krallen am Sofabezug und verpasste der Couch einen abgewrackten Used-Look. Von den Wänden schälte sich bereits die Tapete, aus jeder Zimmerecke schrie es „Bruchbude“, „Baracke“ und „Saustall“, doch Kopfhörer isolierten den spindeldürren Mann, der noch bei Herbstwetter in Shorts durch die Straßen Irfantons schlenderte und dessen ausgelatschtes Schuhwerk durch mehr als ein Loch den großen Zeh belüftete von allem, was die Außenwelt so hergab.
Im Vorbeigehen zündete er sich eine Zigarette aus der halbleeren Schachtel an einem der Teelichter an. Einmal durchpusten. Abstand. Schlaff ließ sich der Hagere aufs Canapé plumpsen. Die Geräusche eines dumpfen Aufpralls gaben der schlechten Federung eine Stimme. Durch die Sonnenbrille blickte er unbequem auf dem Rücken liegend an die Zimmerdecke. Der Lampenschirm der einzigen Lichtquelle baumelte wie ein leuchtendes Damoklesschwert über seinem Kopf und wartete auf das Ende seiner Halbwertszeit. Er neigte den Kopf zur Seite und kratzte sich am grauen Dreitagebart.
Schon eine Weile juckte es ihn ziemlich am Kinn, und er musste aufpassen, dass er sich nicht die Wunden der letzten verunglückten Rasur aufkratzte. So fühlte man sich eben, wenn man nicht in den Tag, sondern in die Nacht hinein lebte. Er fragte sich, ob Eulen oder Fledermäuse ebenfalls derart häufig das Bedürfnis verspürten, sich zu kratzen. Und, wie das dann aussähe. Wie ein belangloses Naturereignis, das zu würdigen sich niemand auch nur eine Sekunde Zeit nähme. Schnell einen Rauchring gepustet.
Zum Glück kein pingeliger Feuermelder an der Decke. Bloß Spinnennetze. Egal, es war nicht sein aus, und noch war er auch nichts Anderes als eine jener Launen der Natur, für die sich niemand Zeit nahm. Nicht einmal er selbst. Er nahm sich Zeit für Fernsehen und Zigaretten und Alkohol. Dafür nahm er sich auch Geld, das stellte er dann ein wenig anders an, aber er schaffte es.
Die letzten Tage allerdings wirkten als geradezu außerirdisches Echo in ihm nach. Es hatte sich endlich etwas verändert. Und auch, wenn sich die Wirkung von all dem für den Moment noch nicht zeigen wollte, zwischen ihm und dem Schlüssel zu jener lang erträumten Wende in seinem als Schicksal entschuldigten Lebenslauf lag nicht mehr als das zerknautschte Polster eines hervorhebenswert hässlichen Sitzmöbels.
Leise polterte ein Teelicht zu Boden und erlosch. Das Eichhörnchen randalierte.
„Schmeiß mal weniger Pyro, du Hooligan“, schnarrte die Stimme des windigen Gesellen seinem Pokemon entgegen, welches mit zusammengekniffenen Augen einen kritischen Blick zurück warf. Der Mann richtete sich auf und starrte an die altmodische Wanduhr, die ein wenig aussah wie ein verunglückter Eiffelturm aus Holz, aber immerhin über ein intaktes Uhrwerk samt Ziffernblatt verfügte.
Eigentlich war die SMS langsam überfällig. Wir zur Bestätigung erklang der Signalton. Und verriet eine Planänderung, die er so nicht erwartet hatte.
Fortsetzung folgt
Credits: Folgende Sprites fanden den Weg in diese Geschichte:
Löwenfisch, Schamane, Süßigkeitenmonstrum - BlakMetl (Kapitel 1)
BuKnu - ShinyBlue (Kapitel 1)
Projekt 351 - Various Artists (Kapitel 1)
Takobold - Takua (Kapitel 2)
Rabicet - EVoLiNa X (Kapitel 2)
Vetari - Rumo (Kapitel 2)
Himmelblaues Wollknäuel - U-Seigel (Kapitel 3)
Aquafuchs (nennen wir ihn "Foxi") - violedra (Kapitel 3)
Ein sehr hässlicher Hund - ShinyBlue (Kapitel 4)
Ich danke allen Spritern für die Inspiration in dieser Geschichte. Falls das Auftauchen eines eurer Sprites nicht erwünscht wird (ich hab mir einfach mal das Recht genommen sie zu benutzen), so sagt mir das bitte. Ich werde diesen Teil dann ändern.
Eine Kleinigkeit noch: Ich bitte euch, die Menschen dieser Geschichte, die Besitzer der Pokemon (also eure Sprites) nicht mit euch zu vergleichen. So soll sich bitte keiner persönlich angegriffen fühlen, wenn ich etwas über die Entstehung der Pokemon sage ;D
(c) by NF
Zuletzt geändert von ShinyBlue am 13.08.2013, 01:02, insgesamt 16-mal geändert.